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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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der neuen Welt toben. Die Wissenschaft kann den leeren Himmel nicht wieder bevölkern, sie kann den Seelen keine Freude mehr geben. Wir wollen keine Wahrheit mehr. Gebt uns einen Traum!“ Das waren Giacomettis letzte Worte gewesen, ein Zitat Gabriele D’Annunzios, des großen italienischen Dichters, mehr als dreißig Jahre alt, wie er ob der allgemeinen Verblüffung lächelnd einräumte, aber nichtsdestoweniger aktuell.
    „Ich kann nicht“, hatte Laura gesagt. Dann war sie hinausgestürzt, und hatte ihn zurückgelassen so einsam wie schon lange nicht mehr.
    Giacometti hatte seinen großen Auftritt gut vorbereitet. Er hatte den Raum mit Rosen schmücken lassen, mit vielerlei Blüten, die in Tellern schwammen. Ätherische Öle hingen schwer in der Luft, und überall brannten Kerzen. Die Tische waren mit Brokaten und Atlasstoffen bezogen, sein Rednerpult mit Pfauenfedern und rosafarbenen Kissen geschmückt.
    Er begann mit eigenen Versen, flocht ein paar Zitate ein, und je länger er las, desto deutlicher drang jener andere italienische Dichter durch seine Worte hindurch. Es war eine kunstvolle Menage, an deren Ende niemand mehr hätte sagen können, was von ihm, was von seinem Vorbild stammte.  Er hatte den Abend als D'Annunzianischen Abend angekündigt, und der glanzvolle Erfolg, zu dem er ihn führte, hätte dem Namensgeber zur Ehre gereicht. Es ging um Liebe und Tod, um tragische Helden, und Maximilian, der nicht alles verstand, fühlte sich in ein antikes Theater versetzt, in dem allerlei mythologische Gestalten ihr Unwesen trieben.
    Doch dann rezitierte Giacometti La pioggia nel pineto, und im Salon wurde es totenstill. Die Witwe Petrelli tupfte sich mit einem Seidentüchlein die vor Rührung tränenden Augen, und es gab niemanden im Raum, der an der Urheberschaft dieser Verse gezweifelt hätte:
     
    Schweige. Auf der Schwelle
    des Waldes höre ich nicht
    Worte, die du sagst,
    menschliche; aber ich höre
    neuere Worte,
    wie sie tropfen und Blätter sprechen
    in der Ferne.
    (...)
     
    Als er fertig war, sich elegant verbeugt hatte im Glanz seines Auftritts, wurde geklatscht und gejubelt. Alle redeten durcheinander, und Giacometti, der seinen Triumph sichtlich genoss, warf den Damen Kusshände zu und überreichte Witwe und Tochter rote Rosen. Nur Boris, der unverhohlen von dekadentem Schwachsinn sprach, blieb in seiner Ecke sitzen. Auch Josef Lindemann gehörte nicht zu den Bewunderern des Italieners. Er beugte sich zu Maximilian und sagte, allerdings leise und auf Deutsch: „Für mich ist er ein Blender, ein kleiner Blender.“ Dann ließ er ein hässliches Lachen hören.
    Doch damit standen die beiden alleine. Selbst Maximilian, den nicht gerade Freundschaft mit Giacometti verband, war beeindruckt. Insbesondere Der Regen im Pinienhain hatte es ihm angetan, der perlende Rhythmus, die scheinbar willkürliche Form, die doch so harmonisch wirkte, die ungeheure Modernität, wie er später zu Boris sagen sollte, im Versuch den anderen von seinem, wie er fand, allzu strengen Urteil abzubringen, und insgeheim nahm er sich vor, das Gedicht in Ruhe studieren. Sicher würde ihm Giacometti eine Ausgabe leihen.
    „Es ist unglaublich!“ Eleonora Petrelli war noch immer außer sich. „Als habe ein guter Geist die Zeit zurückgedreht. Paris! Neunzehnhundertzehn! Oder war es neunzehnhundertzwölf?“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. Ihre Hände flatterten wie Schwalben. „Wissen Sie, dass ich ihn kennen gelernt habe?“ Sie bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden und ergriff Giacomettis Arm. Dieser wandte sich ihr lächelnd zu. „Alle waren sie da: Strawinsky, Debussy, Anatole France natürlich. Selbst Nijinsky, der Tänzer. Und Ida Rubinstein, eine wundervolle Schauspielerin!“
    „Mama war zu ihrer Zeit fast so berühmt wie die Rubinstein...“
    „Wenn auch aus anderen Gründen, mein Kind...“ Sie kicherte.
    „Ich glaube, sie hat es für Geld gemacht.“ Josef Lindemann hatte sich zu Maximilian gebeugt und flüsterte. „Die Tochter? Nein, das glaube ich nicht. Obwohl sie es faustdick hinter den Ohren hat. Und die Mutter ist auch nicht schlecht, glauben Sie mir. Aber beide zusammen“ - er pfiff leise durch die Zähne - „das ist die Krönung! Wie die perversen Schwestern, wenn wir schon bei D’Annunzio sind, und ich wette mit Ihnen, der hat sie auch gehabt, die Mutter natürlich, ob für Geld oder umsonst, das will ich mal dahin gestellt sein lassen.“ Eine Weile hörten sie den anderen zu.

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