Die Nachtwächter
Geräusch pochender Stiefel verklungen war, wandte sich
Mumm wieder der Gruppe zu und lächelte.
»Und wann ist deine Pause zu Ende?«, fragte der junge Mann.
Mumm musterte ihn. Die Haltung verriet: Er wol te kämpfen, obwohl
er kein Kämpfer war. Wäre dies eine Taverne gewesen, hätte der Wirt
jetzt seine teureren Flaschen in Sicherheit gebracht, denn solche
Amateure zertrümmerten immer viel Glas. Jetzt sah Mumm, warum
ihm das Wort »Taverne« eingefal en war. Eine Flasche ragte aus der
Tasche des Mannes. Er hatte sich seinen Mut angetrunken.
»Oh, gegen Donnerstag, schätze ich«, sagte Mumm und sah auf die
Flasche. Gelächter erhob sich aus der wachsenden Menge.
»Warum Donnerstag?«, fragte der Angetrunkene.
»Weil ich am Donnerstag frei habe.«
Diesmal lachten noch mehr Leute. Wenn sich die Anspannung in die
Länge zieht, kann man sie leicht zerreißen.
»Ich verlange, dass du mich verhaftest!«, stieß der Mann hervor. »Na
los, versuch’s!«
»Du bist nicht betrunken genug«, sagte Mumm. »An deiner Stel e
würde ich heimgehen und meinen Rausch ausschlafen.«
Die Hand des Mannes schloss sich um den Flaschenhals. Jetzt ist es
so weit, dachte Mumm. Er will es tatsächlich darauf ankommen lassen.
Ich schätze, seine Chancen stehen etwa eins zu fünf…
Zum Glück war die Menge noch nicht besonders groß. In einer
derartigen Situation konnte man keine Leute gebrauchen, die hinten
standen, den Hals reckten und fragten, was vorne geschah. Und die
Laternen des Wachhauses beleuchteten den Ort des Geschehens.
»Mein Freund, davon rate ich dir dringend ab«, sagte Mumm und
trank einen weiteren Schluck Kakao. Inzwischen war er lauwarm, aber
Becher und Zigarre beanspruchten beide Hände. Das war wichtig. Er
hielt keine Waffe. Niemand konnte nachher behaupten, dass er eine
Waffe in der Hand gehabt hatte.
»Ich bin kein Freund von Leuten wie euch!«, erwiderte der Mann
scharf und zerschlug die Flasche an der Mauer neben den Stufen.
Glas klirrte zu Boden. Mumm beobachtete, wie sich der
Gesichtsausdruck des Mannes veränderte. Von Alkohol stimulierter
Zorn wich stechendem Schmerz. Der Mund öffnete sich…
Der Mann schwankte. Blut quol zwischen seinen Fingern hervor, und
ein leises Stöhnen kam ihm über die Lippen.
So sah es aus, im Licht der Laternen: Mumm saß da, in der einen
Hand einen Becher, in der anderen eine Zigarre, etwa zwei Meter vor
ihm stand der blutende junge Mann. Kein Kampf, die beiden Männer
hatten sich nicht einmal berührt… Mumm wusste, wie Gerüchte
entstanden, und er wol te, dass sich dieses Bild den Leuten fest
einprägte. Sogar die Asche befand sich noch an seiner Zigarre.
Einige Sekunden saß er ganz still, dann stand er besorgt auf.
»Ihr dort, helft mir«, sagte er, legte den Brustharnisch beiseite, zog
sich das Kettenhemd über den Kopf, griff nach dem Ärmel seines
Unterhemds und riss einen langen Streifen ab.
Seine Kommandostimme veranlasste zwei Männer, sich in Bewegung
zu setzen und den Blutenden zu stützen. Einer von ihnen wol te nach
der Hand greifen.
»Fass sie nicht an«, sagte Mumm und zog den Stoffstreifen am
Handgelenk des jungen Mannes zusammen. »Er hat die Hand vol er
Glassplitter. Lasst ihn so vorsichtig wie möglich zu Boden sinken,
bevor er umkippt, aber rührt auf keinen Fal etwas an, solange ich diese
Aderpresse nicht fertig habe. Sam, geh in den Stal und hol Marlenes
Decke. Kennt jemand Doktor Rasen? Heraus mit der Sprache!«
Einer der Zuschauer bestätigte, den Doktor zu kennen, daraufhin
bekam er den Auftrag, ihn zu holen. Er lief sofort los.
»Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, sagte Mumm laut und
fügte in Gedanken hinzu: Einmal in zehn Jahren. »Bei einer Schlägerei
in einer Taverne. Jemand nahm eine Flasche und wusste nicht, wie man
sie richtig zerbricht. Plötzlich hatte er die Hand vol er Splitter, und der andere nahm sie und drückte sie.« Der Menge entfuhr ein
zufriedenstel endes Stöhnen. »Weiß jemand, wer dieser Mann ist?«,
fragte er. »Na los, jemand muss ihn doch kennen…«
Eine Stimme meinte, dass es sich viel eicht um Joss Gappy handelte,
einen Schusterlehrling aus dem Neuen Flickschusterweg.
»Hoffentlich können wir seine Hand retten«, sagte Mumm. »Ich
brauche ein neues Paar Stiefel.«
Eigentlich war es nicht komisch, aber die Zuschauer lachten aus
besorgter Nervosität. Dann wichen die Leute beiseite und machten
Rasen Platz.
»Ah«, sagte er und ging neben Gappy in
Weitere Kostenlose Bücher