Die Nadel.
worden war. Aber immer wieder bat ihn der Führer, zurückzukommen.
Während der Wagen an den vierhundert Jahre alten Gebäuden von Berchtesgaden
vorbeifuhr, stellte der Feldmarschall sich die Frage, warum er immer wieder ein Kommando
übernahm, wenn Hitler ihm verzieh. Geld bedeutete ihm nichts, er hatte schon den
allerhöchsten Rang erreicht, Auszeichnungen waren im Dritten Reich wertlos, und er glaubte
nicht, daß man sich in diesem Krieg ehrenvolle Verdienste erwerben könnte.
Der
Mann, den Hindenburg den »böhmischen Gefreiten« genannt hatte, wußte weder etwas von
der soldatischen Tradition Deutschlands, noch verstand er etwas – trotz seiner
gelegentlichen Eingebungen – von militärischer Strategie. Sonst hätte er diesen
aussichtslosen Krieg nicht angefangen. Von Rundstedt war der beste Soldat des Reiches –
er hatte es in Polen, Frankreich und Rußland bewiesen –, aber er hatte nicht die
geringste Hoffnung, daß der Krieg gewonnen werden könnte.
Trotzdem wollte er
nichts mit der kleinen Gruppe von Generalen zu tun haben, die sich, wie er wußte,
verschworen hatten, um Hitler zu stürzen. Er ließ sie gewähren, aber es war ihm nicht
möglich, seinen Fahneneid zu brechen und sich der Verschwörung anzuschließen. Das war
vermutlich auch der Grund, weshalb er dem Reich weiterhin diente. Ob es im Recht war oder
nicht, sein Land war in Gefahr, und ihm blieb nichts anderesübrig,
als es zu schützen. Ich bin wie ein altes Kavalleriepferd, dachte er. Wenn ich zu Hause
bliebe, müßte ich mich schämen.
Er kommandierte jetzt fünf Armeen an der
Westfront. Eineinhalb Millionen Mann standen unter seinem Befehl. Sie waren nicht so stark,
wie sie hätten sein können – manche Divisionen waren kaum mehr als eine Art Sanatorium
für Invaliden von der Ostfront, es fehlte an Panzern, und es gab viele ausländische
Zwangsrekrutierte in ihren Reihen –, aber von Rundstedt konnte die Alliierten immer noch
an der Eroberung Frankreichs hindern, wenn er seine Kräfte geschickt einsetzte.
Über diesen Punkt mußte er nun mit Hitler sprechen.
Der Mercedes fuhr die
Kehlsteinstraße hoch, bis sie vor einer riesigen Bronzetür am Fuße des Kehlsteins
endete. Ein SS-Posten drückte auf einen Knopf, die Tür öffnete sich mit einem Summen,
und der Wagen fuhr in einen langen Marmortunnel, der von Bronzelaternen erhellt wurde. Am
Ende des Tunnels hielt der Fahrer das Auto an. Von Rundstedt schritt zum Lift und setzte
sich auf einen der Ledersitze, um sich die einhundertdreißig Meter zum Adlerhorst
hinauftragen zu lassen.
Im Vorzimmer nahm Rattenhuber seine Pistole entgegen und
ließ ihn allein. Der Feldmarschall starrte gleichgültig auf Hitlers Porzellansammlung und
überlegte sich noch einmal seine Formulierungen.
Kurz darauf kehrte der blonde
Leibwächter zurück und führte ihn in den Konferenzsaal.
Der Saal erinnerte von
Rundstedt an einen Palast aus dem 18. Jahrhundert. Die Wände waren mit Ölgemälden und
Gobelins bedeckt; zum Mobiliar gehörten eine Büste von Richard Wagner und eine
gewaltige Uhr, auf der ein Bronzeadler saß. Die Sicht aus dem Seitenfenster war
bemerkenswert: Man konnte die Berge von Salzburg und die Spitze des Untersberges erkennen,
in dem der Legende nach Karl der Große darauf wartete, von den Toten aufzuerstehen und das
Vaterland zu retten. Im Innern des Saales, auf den merkwürdig rustikalen Stühlen, saßenHitler und nur drei Angehörige seines Stabes: Admiral Theodor Krancke,
Marinebefehlshaber West, General Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, und
Admiral Karl Jesko von Puttkamer, Hitlers Adjutant.
Von Rundstedt salutierte, und
man bedeutete ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen. Ein Diener brachte einen Teller
mit Kaviarschnitten und ein Glas Champagner. Hitler stellte sich an das große Fenster und
blickte hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ohne sich umzudrehen, sagte er
plötzlich: »Herr von Rundstedt hat seine Meinung geändert. Er stimmt jetzt mit Rommel
überein, daß die Alliierten in der Normandie landen werden. Das hat mir mein Instinkt von
Anfang an gesagt. Aber Krancke glaubt immer noch an Calais. Herr Feldmarschall, erklären
Sie Admiral Krancke, wie es zu diesem Sinneswandel gekommen ist.«
Von Rundstedt
schluckte einen Bissen hinunter und hüstelte kurz hinter vorgehaltener Hand. »Zweierlei
spielte dabei eine Rolle«, begann er, »neue
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