Die Nadel.
Gesicht des Verlierers nach
einem Boxkampf.
Faber hatte seine Ölhaut in Toms Häuschen gelassen. Seine Jacke
und Hose waren jetzt vom Regen durchweicht und voller Schlamm. Er mußte sich rasch
aufwärmen und abtrocknen.
Als er das Lenkrad packte, durchzuckte ein brennenderSchmerz seine Hand. Er hatte den abgerissenen Fingernagel vergessen. Dies
war die unangenehmste seiner Verletzungen. Er würde mit einer Hand fahren müssen.
Faber gab langsam Gas und fand das, was er für die Straße hielt. Auf dieser Insel
konnte er sich nicht verirren – er brauchte nur dem Klippenrand zu folgen, bis er Lucys
Haus erreichte.
Er mußte sich eine Lüge ausdenken, um Lucy zu erklären, was aus
ihrem Mann geworden war. Natürlich könnte er ihr die Wahrheit sagen. Was sollte sie schon
unternehmen? Wenn sie aber Schwierigkeiten machte, würde er sie töten müssen, doch in
seinem Herzen fand er diese Vorstellung abscheulich. Während er langsam an der Klippe
entlang durch den strömenden Regen und den heulenden Wind fuhr, wunderte er sich selbst
über dieses neue Gefühl, diese Gewissensbisse, die er nie gekannt hatte. Es war das erste
Mal, daß er jemanden widerwillig töten würde. Faber war nicht bar jeder Ethik – im
Gegenteil. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß das, was er tat, moralisch auf einer
Ebene stand mit dem, was auf den Schlachtfeldern geschah. Seine Gefühle wurden in diesem
Fall von seinem Verstand bestimmt. Zwar war er immer wieder der gleichen körperlichen
Reaktion, der Übelkeit, ausgesetzt, nachdem er getötet hatte, aber das war und blieb ihm
unverständlich, und deswegen ging er der Sache auch nicht auf den Grund.
Weshalb
also wollte er Lucy nicht töten?
Das Gefühl stand auf einer Ebene mit jenem
inneren Drang, aus dem heraus er der Luftwaffe seinerzeit falsche Koordinaten für
St. Paul’s übermittelt hatte. Es war der Wunsch, etwas Schönes vor der Vernichtung zu
bewahren. Lucy war ein erstaunliches Geschöpf, schön und schwer faßbar wie ein
Kunstwerk. Faber konnte damit leben, ein Mörder zu sein, aber er eignete sich nicht zum
Bilderstürmer. Sobald ihm dieser Gedanke gekommen war, merkte er, daß er auf eine
seltsame Lebenseinstellung hindeutete. Aber Spione sind schließlich seltsame Menschen.
Ihm fielen einige Kameraden ein, die zur selben Zeit wie ervon der
Abwehr angeworben worden waren: Otto, der nordische Riese, der nach japanischem Vorbild
zierliche Statuetten aus Seidenpapier herstellte und Frauen haßte; Friedrich, das listige
kleine Mathematikgenie, das vor einem Schatten zusammenschrak und fünf Tage lang
deprimiert war, wenn er ein Schachspiel verlor; Helmut, der Bücher über die Sklaverei in
Amerika las und kurz darauf in die SS eintrat – alle waren unterschiedlich und auf ihre
Weise seltsam. Wenn sie sonst noch etwas miteinander verband, wußte er nicht, was es
war.
Faber schien immer langsamer zu fahren. Der Regen und der Nebel wurden noch
undurchdringlicher. Er begann wegen des Abgrundes zu seiner Linken unruhig zu
werden. Obwohl ihm sehr heiß war, litt er unter Schüttelfrost. Plötzlich bemerkte er,
daß er laut über Otto, Friedrich und Helmut geredet hatte; das waren Anzeichen von
Fieberwahn. Mit aller Kraft dachte er nur daran, geradeaus zu fahren. Das Geräusch des
Windes wurde immer gleichförmiger, und er fühlte sich zunehmend schläfrig. Einmal
ertappte er sich dabei, daß er angehalten hatte und auf das Meer hinausstarrte. Er wußte
aber nicht, wie lange er schon so gestanden hatte.
Stunden schienen vergangen zu
sein, als Lucys Haus ins Blickfeld rückte. Er steuerte darauf zu und dachte: Ich muß
bremsen, bevor ich gegen die Wand pralle. In der Tür stand eine Gestalt, die ihn durch den
Regen hindurch ansah. Er mußte sich so lange beherrschen, bis er ihr die Lüge erzählt
hatte. Er durfte nicht vergessen, was er sagen wollte, nicht vergessen . . .
Es war schon später Nachmittag, als der Geländewagen zurückkam. Lucy
machte sich Sorgen um die Männer und war gleichzeitig ärgerlich, weil sie nicht zum Lunch
erschienen waren. Während es immer später wurde, hatte sie immer mehr Zeit am Fenster
verbracht und Ausschau gehalten.
Als das Fahrzeug den leichten Abhang zum Haus
herabrollte, wußte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Er fuhr äußerst langsam und in
Schlangenlinien den Weg entlang und nur eine Personsaß darin. Aus der
Nähe sah sie, daß er
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