Die Nadel.
sehr
ruhig heute morgen«, sagte sie munter. Er antwortete nicht.
Henry kam herunter und
setzte sich an den Tisch – so selbstverständlich, als hätte er das seit Jahren so
getan. Es berührte sieseltsam, ihn in Davids Sachen vor sich zu sehn,
ihm ein Frühstücksei zu geben und einen Toaster vor ihn zu stellen.
Jo fragte
plötzlich: »Ist mein Daddy tot?«
Henry warf dem Jungen einen seltsamen Blick zu
und sagte nichts.
»Sei nicht albern«, erwiderte Lucy. »Er ist in Toms Haus.«
Jo beachtete sie nicht und wandte sich an Henry. »Du hast die Sachen von meinem Daddy
an, und du hast meine Mummy. Bist du jetzt mein Daddy?«
Lucy murmelte: »Kindermund
tut Wahrheit . . . «
»Hast du meine Sachen gestern abend gesehen?« fragte
Henry.
Jo nickte.
»Na, dann weißt du ja, warum ich ein paar Sachen von
deinem Daddy borgen mußte. Ich gebe sie ihm zurück, wenn ich wieder eigene habe.«
»Gibst du ihm auch Mummy zurück?«
»Natürlich.«
»Iß dein Ei, Jo«,
sagte Lucy.
Anscheinend gab sich der Junge mit der Erklärung zufrieden, jedenfalls
machte er sich über sein Frühstück her. Lucy blickte aus dem Küchenfenster. »Das Boot
wird heute nicht kommen.«
»Freut es dich?« wollte Henry wissen.
Sie sah
ihn an. »Ich weiß nicht.«
Lucy war nicht hungrig. Sie trank eine Tasse Tee,
während Jo und Henry aßen. Danach ging Jo zum Spielen nach oben, und Henry räumte den
Tisch ab. Während er das Geschirr im Ausguß stapelte, sagte er: »Hast du Angst, daß
David dir weh tun wird? Körperlich, meine ich?«
Sie schüttelte verneinend den
Kopf.
»Du solltest ihn vergessen.« fuhr Henry fort. »Du hattest doch sowieso vor,
ihn zu verlassen. Da ist es doch egal, ob er es erfährt oder nicht?«
»Er ist mein Mann. Das bedeutet etwas. Trotz allem . . . habe ich nicht das Recht, ihn zu
demütigen.«
»Aber du hast das Recht, dich nicht darum zu scheren, ob er sich
gedemütigt fühlt oder nicht.«
»Das läßt sich nicht mit dem Verstand lösen. Es
geht um Gefühle.«
Faber hob resignierend die Hände. »Ich fahre also besser zu
Tom hinüber, um herauszufinden, ob dein Mann zurückkehren will. Wo sind meine
Stiefel?«
»Im Wohnzimmer. Ich hole dir eine Jacke.«
Sie ging nach oben und
holte Davids alte Reitjacke aus dem Schrank. Sie war aus feinem graugrünen Tweed, sehr
elegant mit betonter Taille und schrägen Taschenklappen. Lucy hatte Lederflicken auf die
Ellbogen gesetzt, um den Stoff zu schonen. Kleidungsstücke wie dieses konnte man jetzt
nicht mehr kaufen. Sie brachte die Jacke hinunter ins Wohnzimmer, wo Henry seine Stiefel
anzog. Er hatte den linken zugeschnürt und schob seinen verletzten rechten Fuß behutsam
in den anderen. Lucy kniete sich hin, um ihm zu helfen.
»Die Schwellung ist
zurückgegangen«, sagte sie.
»Aber es tut immer noch verdammt weh.«
Sie
zogen den Stiefel an, schnürten ihn aber nicht zu und zogen den Senkel heraus. Henry stand
versuchsweise auf.
»Es geht.«
Lucy half ihm in die Jacke. Sie war etwas eng
in den Schultern. »Wir haben keine Ölhaut mehr.«
»Dann werde ich eben naß.« Er
zog sie an sich und küßte sie ungestüm. Sie legte die Arme um ihn und hielt ihn einen
Moment lang fest.
»Fahr heute vorsichtiger.«
Er lächelte, nickte, küßte
sie noch einmal – diesmal ganz kurz – und ging hinaus. Sie sah ihm nach, während er
hinüber zum Schuppen hinkte, und stand am Fenster, als er den Geländewagen anließ und
hinter der leichten Anhöhe aus dem Blickfeld verschwand. Nachdem er verschwunden war,
fühlte sie sich zwar erleichtert, jedoch auch irgendwie leer.
Lucy begann das Haus
in Ordnung zu bringen. Sie machteBetten, wusch Geschirr ab, säuberte
die Zimmer und räumte auf, ohne jedoch für diese Aufgabe den rechten Arbeitseifer
aufbringen zu können. Sie war nervös. Die Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte,
beunruhigte sie. Immer wieder kreisten ihre Gedanken nur um altvertraute Argumente, machten
sie unfähig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie empfand das Haus als engen
Käfig. Irgendwo dort draußen gab es eine große Welt, die voll von Krieg und Heldentum
war, von Farbe und Leidenschaft und Menschen, Millionen von Menschen; sie wollte
dazugehören, mittendrin sein, neuen Gedanken begegnen, andere Städte kennenlernen, Musik
hören. Sie schaltete das Radio an. Ein sinnloses Unterfangen, denn die Nachrichtensendung
vermittelte ihr
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