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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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sehr
     ruhig heute morgen«, sagte sie munter. Er antwortete nicht.
    Henry kam herunter und
     setzte sich an den Tisch – so selbstverständlich, als hätte er das seit Jahren so
     getan. Es berührte sieseltsam, ihn in Davids Sachen vor sich zu sehn,
     ihm ein Frühstücksei zu geben und einen Toaster vor ihn zu stellen.
    Jo fragte
     plötzlich: »Ist mein Daddy tot?«
    Henry warf dem Jungen einen seltsamen Blick zu
     und sagte nichts.
    »Sei nicht albern«, erwiderte Lucy. »Er ist in Toms Haus.«
    Jo beachtete sie nicht und wandte sich an Henry. »Du hast die Sachen von meinem Daddy
     an, und du hast meine Mummy. Bist du jetzt mein Daddy?«
    Lucy murmelte: »Kindermund
     tut Wahrheit . . . «
    »Hast du meine Sachen gestern abend gesehen?« fragte
     Henry.
    Jo nickte.
    »Na, dann weißt du ja, warum ich ein paar Sachen von
     deinem Daddy borgen mußte. Ich gebe sie ihm zurück, wenn ich wieder eigene habe.«
    »Gibst du ihm auch Mummy zurück?«
    »Natürlich.«
    »Iß dein Ei, Jo«,
     sagte Lucy.
    Anscheinend gab sich der Junge mit der Erklärung zufrieden, jedenfalls
     machte er sich über sein Frühstück her. Lucy blickte aus dem Küchenfenster. »Das Boot
     wird heute nicht kommen.«
    »Freut es dich?« wollte Henry wissen.
    Sie sah
     ihn an. »Ich weiß nicht.«
    Lucy war nicht hungrig. Sie trank eine Tasse Tee,
     während Jo und Henry aßen. Danach ging Jo zum Spielen nach oben, und Henry räumte den
     Tisch ab. Während er das Geschirr im Ausguß stapelte, sagte er: »Hast du Angst, daß
     David dir weh tun wird? Körperlich, meine ich?«
    Sie schüttelte verneinend den
     Kopf.
    »Du solltest ihn vergessen.« fuhr Henry fort. »Du hattest doch sowieso vor,
     ihn zu verlassen. Da ist es doch egal, ob er es erfährt oder nicht?«
    »Er ist mein Mann. Das bedeutet etwas. Trotz allem . . . habe ich nicht das Recht, ihn zu
     demütigen.«
    »Aber du hast das Recht, dich nicht darum zu scheren, ob er sich
     gedemütigt fühlt oder nicht.«
    »Das läßt sich nicht mit dem Verstand lösen. Es
     geht um Gefühle.«
    Faber hob resignierend die Hände. »Ich fahre also besser zu
     Tom hinüber, um herauszufinden, ob dein Mann zurückkehren will. Wo sind meine
     Stiefel?«
    »Im Wohnzimmer. Ich hole dir eine Jacke.«
    Sie ging nach oben und
     holte Davids alte Reitjacke aus dem Schrank. Sie war aus feinem graugrünen Tweed, sehr
     elegant mit betonter Taille und schrägen Taschenklappen. Lucy hatte Lederflicken auf die
     Ellbogen gesetzt, um den Stoff zu schonen. Kleidungsstücke wie dieses konnte man jetzt
     nicht mehr kaufen. Sie brachte die Jacke hinunter ins Wohnzimmer, wo Henry seine Stiefel
     anzog. Er hatte den linken zugeschnürt und schob seinen verletzten rechten Fuß behutsam
     in den anderen. Lucy kniete sich hin, um ihm zu helfen.
    »Die Schwellung ist
     zurückgegangen«, sagte sie.
    »Aber es tut immer noch verdammt weh.«
    Sie
     zogen den Stiefel an, schnürten ihn aber nicht zu und zogen den Senkel heraus. Henry stand
     versuchsweise auf.
    »Es geht.«
    Lucy half ihm in die Jacke. Sie war etwas eng
     in den Schultern. »Wir haben keine Ölhaut mehr.«
    »Dann werde ich eben naß.« Er
     zog sie an sich und küßte sie ungestüm. Sie legte die Arme um ihn und hielt ihn einen
     Moment lang fest.
    »Fahr heute vorsichtiger.«
    Er lächelte, nickte, küßte
     sie noch einmal – diesmal ganz kurz – und ging hinaus. Sie sah ihm nach, während er
     hinüber zum Schuppen hinkte, und stand am Fenster, als er den Geländewagen anließ und
     hinter der leichten Anhöhe aus dem Blickfeld verschwand. Nachdem er verschwunden war,
     fühlte sie sich zwar erleichtert, jedoch auch irgendwie leer.
    Lucy begann das Haus
     in Ordnung zu bringen. Sie machteBetten, wusch Geschirr ab, säuberte
     die Zimmer und räumte auf, ohne jedoch für diese Aufgabe den rechten Arbeitseifer
     aufbringen zu können. Sie war nervös. Die Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte,
     beunruhigte sie. Immer wieder kreisten ihre Gedanken nur um altvertraute Argumente, machten
     sie unfähig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie empfand das Haus als engen
     Käfig. Irgendwo dort draußen gab es eine große Welt, die voll von Krieg und Heldentum
     war, von Farbe und Leidenschaft und Menschen, Millionen von Menschen; sie wollte
     dazugehören, mittendrin sein, neuen Gedanken begegnen, andere Städte kennenlernen, Musik
     hören. Sie schaltete das Radio an. Ein sinnloses Unterfangen, denn die Nachrichtensendung
     vermittelte ihr

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