Die Nadel.
noch stärker das Gefühl, von allem ausgeschlossen zu sein. Es gab eine
Reportage über Kämpfe aus Italien; die Rationierungsvorschriften waren ein wenig
entschärft worden; der Londoner Stilettmörder befand sich noch immer auf freiem Fuß;
Roosevelt hatte eine Rede gehalten. Sandy Macpherson begann auf einer Kino-Orgel zu
spielen, und Lucy schaltete das Radio aus. Nichts von alledem berührte sie, denn sie lebte
nicht in jener Welt.
Sie hätte schreien mögen.
Trotz des Wetters trieb es
sie aus dem Haus. Es würde nur eine symbolische Flucht sein; denn es waren nicht die
Steinmauern des Hauses, die sie gefangenhielten. Sie holte Jo herunter, nachdem sie ihn mit
Mühe von einem Regiment Spielzeugsoldaten getrennt hatte, und zog ihm wasserdichte
Kleidung an.
»Warum gehen wir raus?« fragte er.
»Um zu sehen, ob das Boot
kommt.«
»Du hast doch gesagt, es kommt heute nicht.«
»Nur für alle
Fälle.«
Sie setzten hellgelbe Südwester auf, banden sie unter dem Kinn fest und
traten vor die Tür.
Der Wind versetzte Lucy einen fast körperlichen Schlag, so
daß sie das Gleichgewicht verlor und taumelte. In Sekundenschnelle war ihr Gesicht so
naß, als ob sie es in eine Wasserschüsselgetaucht hätte. Die
Haarsträhnen, die unter dem Südwester hervorlugten, klebten schlaff an ihren Wangen und
den Schultern ihrer Ölhaut. Jo kreischte vor Begeisterung und platschte in eine
Pfütze.
Sie gingen an den Klippen entlang zum oberen Ende der Bucht und blickten
hinab auf die riesigen Nordseewellen, die selbstzerstörerisch gegen die Klippen und den
Strand peitschten. Der Sturm hatte Wasserpflanzen in Gott weiß welcher Tiefe entwurzelt
und warf sie jetzt in großen Mengen auf den Sand und die Felsen. Mutter und Sohn wurden
gefesselt von den sich ständig verändernden Mustern der Wellen. Dies war schon oft
vorgekommen. Die See übte hypnotische Wirkung auf sie beide aus, und Lucy wußte danach
nie ganz genau, wie lange sie in stummer Betrachtung verharrt hatten.
Diesmal wurde
der Bann gebrochen, als ihr etwas auffiel. Zuerst war es nur das Aufblitzen von etwas
Farbigem in einem Wellental, so flüchtig, daß sie nicht einmal sicher sein konnte, um
welche Farbe es sich gehandelt hatte. Sie hielt danach Ausschau, sah es jedoch nicht
wieder. Ihr Blick schweifte zurück zu der Bucht und der kleinen Anlegestelle, auf der sich
immer wieder Treibgut sammelte, um von der nächsten großen Welle hinweggeschwemmt zu
werden. Nach dem Sturm, am ersten schönen Tag, würden sie und Jo den Strand nach den
Schätzen absuchen, die das Meer ausgespien hatte. Sie würden mit seltsam gefärbten
Steinen, Holzstücken von rätselhafter Herkunft, riesigen Muscheln und verbogenen,
rostigen Metallteilen zurückkehren.
Wieder zeigte sich der Farbtupfer, viel näher
und diesmal einige Sekunden lang. Er war hellgelb wie die Ölkleidung der ganzen
Familie. Angestrengt spähte sie durch den strömenden Regen, trotzdem konnte sie seine
Umrisse nicht erkennen, bevor er wieder verschwand. Doch die Strömung trug ihn näher
heran; so wie sie alles wertlose Zeug in die Bucht trieb und auf den Sand warf wie ein
Mann, der den Inhalt seiner Hosentaschen auf einem Tisch ausleert.
Es war eine Ölhaut. Sie konnte dies erkennen, als das Meer sieauf einen
Wellenkamm hob und zum dritten und letzten Mal zeigte. Henry war gestern ohne seine
zurückgekommen, aber wie war sie ins Meer geraten? Die Welle brach sich über der
Anlegestelle und schleuderte das Objekt auf die nassen Holzbretter der Rampe. Lucy
erkannte, daß es nicht Henrys Ölhaut sein konnte; denn es steckte noch ein Körper
darin. Ihr entsetztes Keuchen wurde vom Wind fortgepeitscht, so daß nicht einmal sie
selbst es hören konnte. Wer war es? Woher war er gekommen? Noch ein Schiffbrüchiger?
Sie mußte sich davon überzeugen, ob er noch am Leben war. Lucy bückte sich und rief
Jo ins Ohr: »Bleib hier – beweg dich nicht von der Stelle.« Dann hastete sie die Rampe
hinab.
Auf halbem Wege hörte sie Schritte hinter sich: Jo folgte ihr. Die Rampe war
schmal und glitschig und deshalb sehr gefährlich. Lucy hielt an, drehte sich um, hob das
Kind in ihre Arme und schimpfte: »Du ungezogener Junge, ich habe dir doch gesagt, daß du
warten sollst!« Ihr Blick glitt zwischen dem Körper und der sicheren Klippenspitze hin
und her, sie zögerte einen Moment lang in schmerzlicher Unschlüssigkeit; ihr war
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