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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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noch stärker das Gefühl, von allem ausgeschlossen zu sein. Es gab eine
     Reportage über Kämpfe aus Italien; die Rationierungsvorschriften waren ein wenig
     entschärft worden; der Londoner Stilettmörder befand sich noch immer auf freiem Fuß;
     Roosevelt hatte eine Rede gehalten. Sandy Macpherson begann auf einer Kino-Orgel zu
     spielen, und Lucy schaltete das Radio aus. Nichts von alledem berührte sie, denn sie lebte
     nicht in jener Welt.
    Sie hätte schreien mögen.
    Trotz des Wetters trieb es
     sie aus dem Haus. Es würde nur eine symbolische Flucht sein; denn es waren nicht die
     Steinmauern des Hauses, die sie gefangenhielten. Sie holte Jo herunter, nachdem sie ihn mit
     Mühe von einem Regiment Spielzeugsoldaten getrennt hatte, und zog ihm wasserdichte
     Kleidung an.
    »Warum gehen wir raus?« fragte er.
    »Um zu sehen, ob das Boot
     kommt.«
    »Du hast doch gesagt, es kommt heute nicht.«
    »Nur für alle
     Fälle.«
    Sie setzten hellgelbe Südwester auf, banden sie unter dem Kinn fest und
     traten vor die Tür.
    Der Wind versetzte Lucy einen fast körperlichen Schlag, so
     daß sie das Gleichgewicht verlor und taumelte. In Sekundenschnelle war ihr Gesicht so
     naß, als ob sie es in eine Wasserschüsselgetaucht hätte. Die
     Haarsträhnen, die unter dem Südwester hervorlugten, klebten schlaff an ihren Wangen und
     den Schultern ihrer Ölhaut. Jo kreischte vor Begeisterung und platschte in eine
     Pfütze.
    Sie gingen an den Klippen entlang zum oberen Ende der Bucht und blickten
     hinab auf die riesigen Nordseewellen, die selbstzerstörerisch gegen die Klippen und den
     Strand peitschten. Der Sturm hatte Wasserpflanzen in Gott weiß welcher Tiefe entwurzelt
     und warf sie jetzt in großen Mengen auf den Sand und die Felsen. Mutter und Sohn wurden
     gefesselt von den sich ständig verändernden Mustern der Wellen. Dies war schon oft
     vorgekommen. Die See übte hypnotische Wirkung auf sie beide aus, und Lucy wußte danach
     nie ganz genau, wie lange sie in stummer Betrachtung verharrt hatten.
    Diesmal wurde
     der Bann gebrochen, als ihr etwas auffiel. Zuerst war es nur das Aufblitzen von etwas
     Farbigem in einem Wellental, so flüchtig, daß sie nicht einmal sicher sein konnte, um
     welche Farbe es sich gehandelt hatte. Sie hielt danach Ausschau, sah es jedoch nicht
     wieder. Ihr Blick schweifte zurück zu der Bucht und der kleinen Anlegestelle, auf der sich
     immer wieder Treibgut sammelte, um von der nächsten großen Welle hinweggeschwemmt zu
     werden. Nach dem Sturm, am ersten schönen Tag, würden sie und Jo den Strand nach den
     Schätzen absuchen, die das Meer ausgespien hatte. Sie würden mit seltsam gefärbten
     Steinen, Holzstücken von rätselhafter Herkunft, riesigen Muscheln und verbogenen,
     rostigen Metallteilen zurückkehren.
    Wieder zeigte sich der Farbtupfer, viel näher
     und diesmal einige Sekunden lang. Er war hellgelb wie die Ölkleidung der ganzen
     Familie. Angestrengt spähte sie durch den strömenden Regen, trotzdem konnte sie seine
     Umrisse nicht erkennen, bevor er wieder verschwand. Doch die Strömung trug ihn näher
     heran; so wie sie alles wertlose Zeug in die Bucht trieb und auf den Sand warf wie ein
     Mann, der den Inhalt seiner Hosentaschen auf einem Tisch ausleert.
    Es war eine Ölhaut. Sie konnte dies erkennen, als das Meer sieauf einen
     Wellenkamm hob und zum dritten und letzten Mal zeigte. Henry war gestern ohne seine
     zurückgekommen, aber wie war sie ins Meer geraten? Die Welle brach sich über der
     Anlegestelle und schleuderte das Objekt auf die nassen Holzbretter der Rampe. Lucy
     erkannte, daß es nicht Henrys Ölhaut sein konnte; denn es steckte noch ein Körper
     darin. Ihr entsetztes Keuchen wurde vom Wind fortgepeitscht, so daß nicht einmal sie
     selbst es hören konnte. Wer war es? Woher war er gekommen? Noch ein Schiffbrüchiger?
    Sie mußte sich davon überzeugen, ob er noch am Leben war. Lucy bückte sich und rief
     Jo ins Ohr: »Bleib hier – beweg dich nicht von der Stelle.« Dann hastete sie die Rampe
     hinab.
    Auf halbem Wege hörte sie Schritte hinter sich: Jo folgte ihr. Die Rampe war
     schmal und glitschig und deshalb sehr gefährlich. Lucy hielt an, drehte sich um, hob das
     Kind in ihre Arme und schimpfte: »Du ungezogener Junge, ich habe dir doch gesagt, daß du
     warten sollst!« Ihr Blick glitt zwischen dem Körper und der sicheren Klippenspitze hin
     und her, sie zögerte einen Moment lang in schmerzlicher Unschlüssigkeit; ihr war

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