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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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klar,
     daß das Meer den Körper in jeder Sekunde zurückschwemmen konnte, deshalb setzte sie den
     Weg nach unten fort, Jo auf den Armen tragend.
    Eine kleinere Welle bedeckte den
     Körper. Als das Wasser zurückflutete, war Lucy nahe genug herangekommen, um sich davon
     überzeugen zu können, daß es ein Mann war. Er war so lange im Wasser gewesen, daß seine
     Gesichtszüge verschwollen und entstellt waren. Das bedeutete, daß er tot sein
     mußte. Lucy konnte also nichts mehr für ihn tun, und sie wollte ihr Leben und das ihres
     Sohnes nicht aufs Spiel setzen, um eine Leiche zu bergen. Schon war sie im Begriff
     umzukehren, als ihr etwas an dem aufgedunsenen Gesicht vertraut vorkam. Sie starrte es
     verständnislos an und versuchte, es in ihre Erinnerung einzuordnen. Dann, ganz plötzlich,
     erkannte sie das Gesicht. Lähmendes Entsetzen übermannte sie; ihr Herz schien
     auszusetzen, und sie flüsterte: »Nein, David, nein!«
    Jetzt achtete sie nicht mehr auf die Gefahr und ging weiter
     vorwärts. Eine kleinere Welle brach sich an ihren Knien und füllte ihre Gummistiefel mit
     schäumendem Salzwasser, doch sie merkte es nicht. Jo wand sich in ihren Armen, um nach
     vorn blicken zu können, aber sie schrie ihm »Sieh nicht hin!« ins Ohr und drückte sein
     Gesicht gegen ihre Schulter. Er begann zu weinen.
    Lucy kniete sich neben den Körper
     und berührte das fürchterliche Gesicht mit der Hand. Es war David. Daran gab es keinen
     Zweifel. Er war tot, und zwar seit einiger Zeit. Irgendein tiefer Instinkt veranlaßte sie,
     ganz sicherzugehen: Sie hob den unteren Rand der Ölhaut hoch und schaute nach den
     Stümpfen seiner Beine.
    Es war ihr unmöglich, die Tatsache des Todes zu
     verkraften. Sie hatte ihm zwar gewissermaßen den Tod gewünscht; aber ihre Empfindungen
     waren eine verworrene Mischung aus Schuldgefühlen und der Furcht, ihre Untreue könne
     entdeckt werden. In ihrem Inneren rangen Trauer, Entsetzen, Erleichterung und das Wissen
     darum, frei zu sein, miteinander, ohne daß eines dieser Gefühle die Oberhand gewonnen
     hätte.
    Sie wäre wie angewurzelt stehen geblieben, doch die nächste Welle war
     stark. Ihre Wucht warf Lucy um, so daß sie eine Menge Salzwasser schluckte. Irgendwie
     gelang es ihr, Jo nicht loszulassen und nicht von der Rampe geschwemmt zu werden. Als sich
     die Brandung beruhigte, stand sie auf und flüchtete vor dem gierigen Zugriff des
     Ozeans.
    Sie kletterte bis zum Klippenrand empor, ohne sich umzublicken. Das Haus
     wurde sichtbar, und der Geländewagen stand davor. Henry war zurück.
    Ohne Jo
     abzusetzen, lief Lucy stolpernd los. Sie sehnte sich danach, ihren Schmerz mit Henry zu
     teilen, seine Arme um sich zu spüren und von ihm getröstet zu werden. Ihr Atem ging
     stoßweise und sie schluchzte, und Tränen mischten sich unsichtbar mit dem Regen in ihrem
     Gesicht. Sie ging um das Haus herum, riß die Küchentür auf und setzte Jo eilig auf den
     Boden.
    Beiläufig sagte Henry: »David hat beschlossen, noch einen Tag bei Tom
     zu bleiben.«
    Sie starrte ihn ungläubig an, ohne einen klaren Gedanken fassen zu
     können. Dann – immer noch zweifelnd – begriff sie rein intuitiv: Henry hatte David
     ermordet.
    Die Schlußfolgerung traf sie zuerst wie ein Hieb in den Magen, der ihr
     den Atem raubte; die Gründe verstand sie einen Sekundenbruchteil später. Der Schiffbruch,
     das seltsam geformte Messer, an dem er so hing, der beschädigte Jeep, die Radiomeldung
     über den Stilettmörder von London – alles paßte plötzlich zusammen wie die Teile
     eines Puzzlespiels, das in die Luft geworfen wird und entgegen aller Vernunft fertig
     zusammengesetzt herunterfällt.
    »Kein Grund, so überrascht auszusehen.« Henry
     lächelte. »Sie haben da drüben viel zu tun, und ich habe ihn nicht ermuntert
     zurückzukommen.«
    Tom. Sie mußte zu Tom. Er würde wissen, was zu tun war, und sie
     und Jo beschützen, bis die Polizei kam. Er hatte einen Hund und ein Gewehr.
    Für
     einen Moment wurde ihre Angst unterbrochen von der Trauer um den Henry, dem sie
     vertraut und den sie fast geliebt hätte; natürlich existierte er nicht – sie hatte ihn
     sich nur eingebildet. Statt eines warmherzigen, starken, liebevollen Mannes sah sie vor
     sich ein Ungeheuer, das lächelte und ihr seelenruhig erlogene Botschaften des Mannes
     überbrachte, den er ermordet hatte.
    Sie unterdrückte ein Schaudern. Mit Jo an der
     Hand verließ sie die Küche, ging durch den Flur und trat

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