Die Nadel.
klar,
daß das Meer den Körper in jeder Sekunde zurückschwemmen konnte, deshalb setzte sie den
Weg nach unten fort, Jo auf den Armen tragend.
Eine kleinere Welle bedeckte den
Körper. Als das Wasser zurückflutete, war Lucy nahe genug herangekommen, um sich davon
überzeugen zu können, daß es ein Mann war. Er war so lange im Wasser gewesen, daß seine
Gesichtszüge verschwollen und entstellt waren. Das bedeutete, daß er tot sein
mußte. Lucy konnte also nichts mehr für ihn tun, und sie wollte ihr Leben und das ihres
Sohnes nicht aufs Spiel setzen, um eine Leiche zu bergen. Schon war sie im Begriff
umzukehren, als ihr etwas an dem aufgedunsenen Gesicht vertraut vorkam. Sie starrte es
verständnislos an und versuchte, es in ihre Erinnerung einzuordnen. Dann, ganz plötzlich,
erkannte sie das Gesicht. Lähmendes Entsetzen übermannte sie; ihr Herz schien
auszusetzen, und sie flüsterte: »Nein, David, nein!«
Jetzt achtete sie nicht mehr auf die Gefahr und ging weiter
vorwärts. Eine kleinere Welle brach sich an ihren Knien und füllte ihre Gummistiefel mit
schäumendem Salzwasser, doch sie merkte es nicht. Jo wand sich in ihren Armen, um nach
vorn blicken zu können, aber sie schrie ihm »Sieh nicht hin!« ins Ohr und drückte sein
Gesicht gegen ihre Schulter. Er begann zu weinen.
Lucy kniete sich neben den Körper
und berührte das fürchterliche Gesicht mit der Hand. Es war David. Daran gab es keinen
Zweifel. Er war tot, und zwar seit einiger Zeit. Irgendein tiefer Instinkt veranlaßte sie,
ganz sicherzugehen: Sie hob den unteren Rand der Ölhaut hoch und schaute nach den
Stümpfen seiner Beine.
Es war ihr unmöglich, die Tatsache des Todes zu
verkraften. Sie hatte ihm zwar gewissermaßen den Tod gewünscht; aber ihre Empfindungen
waren eine verworrene Mischung aus Schuldgefühlen und der Furcht, ihre Untreue könne
entdeckt werden. In ihrem Inneren rangen Trauer, Entsetzen, Erleichterung und das Wissen
darum, frei zu sein, miteinander, ohne daß eines dieser Gefühle die Oberhand gewonnen
hätte.
Sie wäre wie angewurzelt stehen geblieben, doch die nächste Welle war
stark. Ihre Wucht warf Lucy um, so daß sie eine Menge Salzwasser schluckte. Irgendwie
gelang es ihr, Jo nicht loszulassen und nicht von der Rampe geschwemmt zu werden. Als sich
die Brandung beruhigte, stand sie auf und flüchtete vor dem gierigen Zugriff des
Ozeans.
Sie kletterte bis zum Klippenrand empor, ohne sich umzublicken. Das Haus
wurde sichtbar, und der Geländewagen stand davor. Henry war zurück.
Ohne Jo
abzusetzen, lief Lucy stolpernd los. Sie sehnte sich danach, ihren Schmerz mit Henry zu
teilen, seine Arme um sich zu spüren und von ihm getröstet zu werden. Ihr Atem ging
stoßweise und sie schluchzte, und Tränen mischten sich unsichtbar mit dem Regen in ihrem
Gesicht. Sie ging um das Haus herum, riß die Küchentür auf und setzte Jo eilig auf den
Boden.
Beiläufig sagte Henry: »David hat beschlossen, noch einen Tag bei Tom
zu bleiben.«
Sie starrte ihn ungläubig an, ohne einen klaren Gedanken fassen zu
können. Dann – immer noch zweifelnd – begriff sie rein intuitiv: Henry hatte David
ermordet.
Die Schlußfolgerung traf sie zuerst wie ein Hieb in den Magen, der ihr
den Atem raubte; die Gründe verstand sie einen Sekundenbruchteil später. Der Schiffbruch,
das seltsam geformte Messer, an dem er so hing, der beschädigte Jeep, die Radiomeldung
über den Stilettmörder von London – alles paßte plötzlich zusammen wie die Teile
eines Puzzlespiels, das in die Luft geworfen wird und entgegen aller Vernunft fertig
zusammengesetzt herunterfällt.
»Kein Grund, so überrascht auszusehen.« Henry
lächelte. »Sie haben da drüben viel zu tun, und ich habe ihn nicht ermuntert
zurückzukommen.«
Tom. Sie mußte zu Tom. Er würde wissen, was zu tun war, und sie
und Jo beschützen, bis die Polizei kam. Er hatte einen Hund und ein Gewehr.
Für
einen Moment wurde ihre Angst unterbrochen von der Trauer um den Henry, dem sie
vertraut und den sie fast geliebt hätte; natürlich existierte er nicht – sie hatte ihn
sich nur eingebildet. Statt eines warmherzigen, starken, liebevollen Mannes sah sie vor
sich ein Ungeheuer, das lächelte und ihr seelenruhig erlogene Botschaften des Mannes
überbrachte, den er ermordet hatte.
Sie unterdrückte ein Schaudern. Mit Jo an der
Hand verließ sie die Küche, ging durch den Flur und trat
Weitere Kostenlose Bücher