Die Nadel.
Faber schloß die Hintertür auf – für den Fall einer schnellen
Flucht –, bevor er den Hausflur betrat. Er ließ die Taschenlampe aufblitzen, nur einen
kurzen Moment, und sah sich rasch um. Er erkannte einen gekachelten Gang, einen
Nierentisch, den er umgehen mußte, eine Reihe von Mänteln an Haken und zur Rechten eine
mit einem Läufer ausgelegte Treppe.
Leise kletterte er die Treppe hinauf.
Er
war mitten auf dem Treppenabsatz, der zum zweiten Stock führte, als er das Licht unter der
Tür sah. Eine Sekunde später war das Husten eines Asthmatikers und das Geräusch der
Toilettenspülung zu hören. Mit zwei großen Schritten war Faber an der Tür und preßte
sich regungslos an die Wand.
Das Licht fiel auf den Treppenabsatz, als die Tür
aufging. Faber ließ das Stilett aus dem Ärmel in seine Hand gleiten. Der alte Mann kam
aus der Toilette heraus und ging über den Treppenabsatz. Das Licht ließ er brennen. An
der Tür zu seinem Schlafzimmer stöhnte er, drehte sich um und kam zurück.
Der muß mich sehen, dachte Faber. Er packte den Griff des Stiletts fester. Aus
halbgeschlossenen Augen blickte der alte Mann auf den Fußboden. Er sah erst auf, als er
nach der Lichtschnur griff. Der Tod war ihm jetzt sehr nahe – aber der Mann fuchtelte so
sehr in der Luft herum, um die Schnur zu finden, daß Faber klar war, daß der Mann mehr
oder minder schlafwandelte.
Das Licht ging aus, der alte Mann schlurfte in sein Bett
zurück, und Faber atmete wieder durch.
Am Ende der zweiten Treppenflucht war nur
eine einzige Tür. Faber probierte sie vorsichtig aus. Sie war verschlossen.
Er nahm
ein weiteres Werkzeug aus der Jackentasche. Das Gurgeln der sich auffüllenden
Wasserspülung übertönte das Geräusch, das Faber beim Aufbrechen des Schlosses mit
seinem Dietrich machte. Er öffnete die Tür und lauschte.
Tiefes, regelmäßiges
Atmen war zu hören. Es kam aus der gegenüberliegenden Zimmerecke. Er konnte nichts
sehen. Ganz langsam durchquerte er das pechschwarze Zimmer und strecktebei jedem Schritt die Hände nach vorn aus, bis er neben dem Bett stand.
Faber hatte die Taschenlampe in der linken Hand, das Stilett lose im Ärmel, und seine
rechte Hand war frei. Er knipste die Taschenlampe an und packte den Schlafenden mit einem
Würgegriff am Hals.
Der Agent riß die Augen auf – sie waren voller Furcht –,
konnte aber keinen Laut von sich geben. Faber stieg rittlings auf das Bett und setzte sich
auf ihn. Dann flüsterte er: »Das erste Buch der Könige, Kapitel 13«, und lockerte
seinen Griff.
»Sie!« sagte der Agent. Er starrte in den Strahl der Taschenlampe
und versuchte, Fabers Gesicht auszumachen. Dabei rieb er sich den Hals dort, wo Fabers Hand
zugedrückt hatte.
Faber zischte: »Keinen Laut!« Er richtete die Taschenlampe auf
die Augen des Agenten und zog das Stilett mit der rechten Hand.
»Wollen Sie mich
nicht aufstehen lassen?«
»Im Bett sind Sie mir lieber. Da können Sie nicht noch
mehr anrichten.«
»Anrichten? Noch mehr?«
»Sie wurden auf dem Leicester
Square beobachtet, ich konnte Ihnen hierher folgen, und dieses Haus wird überwacht. Wie
kann ich Ihnen also trauen?«
»Mein Gott, es tut mir leid.«
»Warum hat man
Sie geschickt?«
»Die Botschaft mußte persönlich übergeben werden. Der Befehl
kommt vom Führer selbst.« Der Agent hielt inne.
»Ja, was für ein Befehl?«
»Ich . . . muß sicher sein, daß Sie der Richtige sind.«
»Wie können Sie
sicher sein?«
»Ich muß Ihr Gesicht sehen.«
Faber zögerte und richtete
dann kurz die Taschenlampe auf sich selbst. »Zufrieden?«
»Die Nadel«, flüsterte
der Mann.
»Und wer sind Sie?«
»Major Friedrich Kaldor, zu Befehl.«
»Also hätten Sie mir zu befehlen.«
»Oh, nein. Sie sind während Ihrer Abwesenheit zweimal
befördert worden. Jetzt sind Sie Oberstleutnant.«
»Haben die in Hamburg nichts
Besseres zu tun?«
»Freuen Sie sich nicht?«
»Ich wäre froh, wenn ich
zurückkehren und Major von Braun zum Latrinendienst abordnen könnte.«
»Darf ich
aufstehen?«
»Auf keinen Fall. Vielleicht schmachtet der wirkliche Major Kaldor im
Wandsworth-Gefängnis, und Sie sind ein Agent des MI5, der nur darauf wartet, seinen
Freunden im Haus gegenüber ein Zeichen zu geben.«
»Wie Sie wollen.«
»Welchen Befehl hat also Hitler selbst gegeben?«
»Nun, im Reich glaubt man,
daß es dieses Jahr eine Invasion in Frankreich geben
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