Die Nadel.
Londoner West End. Faber fragte sich, ob es in Berlin genauso sei. Er kaufte eine Bibel in
der Buchhandlung Hatchard’s in Piccadilly und steckte sie in die Innentasche seines
Mantels, so daß sie nicht zu sehen war. Es war ein milder, feuchter Tag, an dem es von
Zeit zu Zeit nieselte. Faber trug einen Regenschirm.
Das Treffen war für die Zeit
zwischen 9 und 10 Uhr oder zwischen 17 und 18 Uhr vorgesehen. Der eine sollte jeden Tag
dorthin gehen, bis der andere auftauchte. Wenn es an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zu
keinem Kontakt gekommen war, sollten beide es zwei Wochen lang an jedem zweiten Tag erneut
versuchen. Danach sollte man aufgeben.
Faber war um zehn nach neun am Leicester
Square. Der Kontaktmann stand im Eingang des Tabakwarengeschäfts. Er hatte eine schwarz
eingebundene Bibel unter dem Arm und tat so, als stelle er sich dort unter. Faber
beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus und lief mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Der
Mann war recht jung, hatte einen blonden Schnurrbart und wirkte wohlgenährt. Er trug einen
schwarzen, zweireihigen Regenmantel, las den Daily Express und hatte Kaugummi im
Mund. Faber kannte ihn nicht.
Als Faber zum zweitenmal auf der gegenüber liegenden
Straßenseite vorbeiging, entdeckte er den Verfolger. Ein kleiner, stämmiger Mann, der
einen Trenchcoat und einen Schlapphuttrug, die bei englischen Polizisten
in Zivil so beliebt waren, stand im Foyer eines Bürogebäudes und spähte durch die Glas-
türen auf die gegenüberliegende Straßenseite.
Es gab zwei Möglichkeiten. Wenn
der Agent nicht wußte, daß man ihm auf die Schliche gekommen war, brauchte Faber ihn nur
vom Treffpunkt fortzulotsen und den Verfolger abzuschütteln. Die andere Möglichkeit war
jedoch, daß man den Agenten aus dem Verkehr gezogen hatte und der Mann im Eingang zur
Gegenseite gehörte. Dann durften weder er noch der Verfolger Fabers Gesicht sehen.
Faber ging vom schlimmsten Fall aus an und überlegte, was zu tun sei.
Auf dem
Platz stand eine Telefonzelle. Faber ging hinein und merkte sich die Nummer. Dann suchte er
das erste Buch der Könige, Kapitel 13, in der Bibel, riß die Seite heraus und kritzelte
auf den Rand: »Kommen Sie zu der Telefonzelle auf dem Platz.«
Er spazierte in den
Nebenstraßen hinter der Nationalgalerie umher, bis er einen kleinen Jungen von etwa zehn
oder elf Jahren fand, der auf einer Stufe saß und Steine in eine Pfütze warf.
Faber fragte ihn: »Kennst du das Tabakgeschäft auf dem Platz dort?«
»Jaa«,
antwortete der Junge.
»Magst du Kaugummi?«
»Jaa.«
Faber gab ihm
die Seite, die er aus der Bibel gerissen hatte. »Im Eingang des Tabakladens steht ein
Mann. Wenn du ihm das gibst, kriegst du von ihm Kaugummi.«
»Geht klar«, sagte der
Junge. Er stand auf. »Is’ das ’n Yankee?«
»Jaa«, sagte Faber.
Der
Junge rannte davon. Faber folgte ihm. Als der Junge sich dem Agenten näherte, duckte Faber
sich in den Eingang des gegenüberliegenden Gebäudes. Der Verfolger war immer noch da und
spähte durch das Glas. Faber stand genau vor der Tür und nahm ihm damit die Sicht über
die Straße hinweg. Er öffneteseinen Regenschirm und tat so, als habe er
damit Probleme. Er sah, wie der Agent dem Jungen etwas gab und davonging.
Faber
beendete die Posse mit dem Regenschirm und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er
blickte über die Schulter zurück und sah, wie der Verfolger auf die Straße lief und nach
dem verschwundenen Agenten Ausschau hielt.
Faber betrat die nächstgelegene
Telefonzelle und wählte die Nummer der Zelle auf dem Platz. Er brauchte ein paar Minuten,
um durchzukommen. Endlich war eine tiefe Stimme zu hören: »Hallo?«
Faber sagte:
»Welches Kapitel nehmen wir heute?«
»Das erste Buch der Könige, Kapitel
13.«
»Höchst erbaulich.«
»Ja, nicht wahr?«
Der Trottel hat keine
Ahnung von der Gefahr, in der er schwebt, dachte Faber. Laut sagte er: »Nun?«
»Ich muß Sie sehen.«
»Das ist unmöglich.«
»Aber es muß sein!« In
der Stimme schwang etwas mit, das an Verzweiflung grenzte; jedenfalls kam es Faber so
vor. »Die Botschaft kommt von ganz oben – verstehen Sie?«
Faber tat, als zögere
er. »Also gut. Ich treffe Sie heute in einer Woche um 9 Uhr am Haupteingang von Euston
Station.«
»Geht’s nicht eher?«
Faber hängte auf und trat hinaus. Er
verschwand rasch um zwei Ecken und hatte die Telefonzelle auf dem Platz
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