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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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eine hohe Stirn und
     einen ausgeprägten Kiefer. Lucy dachte, daß er gut aussehen würde, wenn er nicht so
     schrecklich blaß wäre.
    Der Fremde rührte sich und öffnete die Augen. Zuerst
     wirkte er entsetzt wie ein kleiner Junge, der in einer unbekannten Umgebung aufwacht. Doch
     sein Gesichtsausdruck entspannte sich rasch, und er sah sich aufmerksam um, wobei sein
     Blick kurz auf Lucy, David, das Fenster, die Tür und das Feuer fiel.
    »Wir müssen
     ihm diese Kleider ausziehen«, sagte Lucy. »Hol einen Pyjama und einen Morgenmantel,
     David.«
    David rollte hinaus, und Lucy kniete sich neben den Fremden. Sie zog
     zunächst seine Stiefel und Socken aus. Eine Spur von Belustigung schien in seinen Augen
     aufzuleuchten, während er sie beobachtete. Als sie jedoch die Hand nach seiner Jacke
     ausstreckte, kreuzte er die Arme schützend über der Brust.
    »Sie werden an
     Lungenentzündung sterben, wenn Sie diese Kleidung anbehalten.« Sie versuchte, ihre Stimme
     wie die einer Krankenschwester klingen zu lassen. »Erlauben Sie mir, sie
     auszuziehen.«
    Der Fremde sagte: »Ich glaube nicht, daß wir uns gut genug kennen
     – schließlich sind wir einander nicht vorgestellt worden.«
    Es war das erste Mal, daß er sprach. Seine Stimme war so selbstbewußt, und seine Worte wirkten so förmlich, angesichts seines erbärmlichen Zustands, daß Lucy laut auflachen mußte. »Sind Sie schüchtern?« fragte sie.
    »Ich meine nur, daß ein Mann sich etwas Geheimnisvolles bewahren sollte.« Er grinste breit, aber sein Lächeln verfiel, und seine Augen schlossen sich vor Schmerz.
    David kam mit sauberen Sachen über dem Arm zurück. »Ihr beide scheint euch ja schon erstaunlich gut zu verstehen.«
    »Du mußt ihn ausziehen. Mir erlaubt er’s nicht.«
    Davids Miene war unergründlich.
    »Ich schaffe es schon allein, danke – wenn es Ihnen nicht allzu unhöflich vorkommt«, sagte der Fremde.
    »Wie Sie wollen.« David ließ die Sachen auf einen Stuhl fallen und rollte hinaus.
    »Ich mache noch etwas Tee«, sagte Lucy, während sie ihm folgte. Sie schloß die Wohnzimmertür hinter sich.
    In der Küche ließ David schon den Kessel vollaufen. Eine brennende Zigarette hing zwischen seinen Lippen. Lucy fegte rasch das zerbrochene Porzellan im Flur zusammen und kam dann ebenfalls in die Küche.
    David sagte: »Vor fünf Minuten war ich nicht mal sicher, ob der Bursche noch lebt – und nun kann er sich selbst anziehen.«
    Lucy hantierte mit der Teekanne. »Vielleicht hat er sich verstellt.«
    »Die Gefahr, von dir ausgezogen zu werden, hat ihn jedenfalls schnell kuriert.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand derart schüchtern ist.«
    »Dein eigener Mangel an Zurückhaltung verleitet dich vielleicht dazu, andere auf diesem Gebiet zu unterschätzen.«
    Lucy klapperte mit den Tassen. »Laß uns jetzt keinen Streit anfangen, David – wir haben was Interessanteres zu tun. Zur Abwechslung mal.« Sie nahm das Tablett und ging damit ins Wohnzimmer.
    Der Fremde knöpfte gerade die Pyjamajacke zu. Er drehte Lucy den Rücken zu, als sie hereinkam. Lucy stellte das Tablett ab und schenkte den Tee ein. Als sie sich umdrehte, hatte er Davids Morgenmantel übergezogen.
    »Sie sind sehr freundlich«, sagte er und schaute ihr gerade in die Augen.
    Eigentlich wirkt er nicht gerade schüchtern, dachte Lucy. Er war jedoch einige Jahre älter als sie – vielleicht um die vierzig. Das war wohl der Grund. Mit jeder Minute sah er weniger wie ein Schiffbrüchiger aus.
    »Setzen Sie sich ans Feuer.« Lucy reichte ihm eine Tasse Tee.
    »Ich weiß nicht, ob ich die Untertasse halten kann. Ich kann die Finger nicht bewegen.« Mit steifen Fingern nahm er die Tasse und hielt sie mit den Innenflächen der Hände fest. Vorsichtig führte er sie an die Lippen.
    David kam herein und bot dem Fremden eine Zigarette an. Der lehnte ab und trank seine Tasse aus. »Wo bin ich?«
    »Die Insel heißt Storm Island.«
    Der Mann zeigte eine Spur von Erleichterung. »Ich hatte befürchtet, zum Festland zurückgetrieben zu werden.«
    David drehte die Füße des Fremden zum Feuer, damit sie warm würden. »Sie wurden wahrscheinlich in die Bucht geschwemmt. Das passiert mit vielen Dingen. So bildete sich der Strand.«
    Jo kam mit verschlafenen Augen ins Zimmer. Er zog einen einarmigen, zotteligen Teddybären hinter sich her, der so groß wie er selbst war.
    Als er den Fremden sah, rannte er zu Lucy und vergrub sein Gesicht in ihrem Rock.
    »Ich habe Ihre kleine

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