Die Nanokriege - Die Sturmflut
mitgenommen hatte. Jetzt war sie froh darüber; sie würde auf ihrer neuen Station niemanden kennen, und der Hauslöwe war wenigstens ein Wesen, das sie als Freund bezeichnen konnte.
Als sie die Innenstadt und damit auch den von Laternen beleuchteten Teil von Balmoran verließen, sah sie wieder zum Fenster hinaus. Bei den Gebäuden in diesem Bereich handelte es sich offenbar um Lagerhäuser, und sie sah jetzt wesentlich weniger Menschen, die auch viel verstohlener wirkten als die ausgelassenen Grüppchen in der Innenstadt. Sie legte Azure die Hand auf die Schulter, als eine Gruppe von Gestalten aus den Schatten herauskam, entspannte sich aber dann, als die Gestalten offenbar erkannten, dass die Kutsche mit dem schwer bewaffneten Kutscher und seinem Begleiter ihnen mehr Ärger bereiten konnte, als sie vielleicht wert war. Sie hoffte inständig, dass ihre neue Aufgabe es nicht erfordern würde, öfter durch dieses Viertel zu fahren.
Die Kutsche passierte gerade ein Eichenwäldchen, rollte eine überraschend gepflegte Straße hinunter und erreichte schließlich eine offene Fläche. Vor ihnen war es hell, und Rachel reckte sich, um einen Blick auf den Stützpunkt zu werfen.
Die freie Fläche schien sich kilometerweit am Fluss entlang zu dehnen. Auf dieser Flussseite waren einige Gebäude im Bau, und selbst zu dieser späten Stunde wurde noch im Schein von Fackeln und Laternen gearbeitet. Am Fluss entlang konnte sie an den Docks vertäute Boote und Leichter
erkennen, die aber meist von bereits fertig gestellten Gebäuden verdeckt waren. Der Geruch von frisch geschnittenen Eichen- und Fichtenbrettern erinnerte sie kurz an Raven’s Mill in der Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch, und der Stützpunkt vermittelte auch dasselbe Gefühl von nur mit Mühe geordnetem Chaos.
Die Kutsche hielt vor einem großen offensichtlich schon etwas älteren Gebäude an. Es bestand zum Teil aus Stein und zum Teil aus Holz und war in verschiedenen Baustilen gehalten und allem Anschein nach im Laufe mehrerer Generationen errichtet worden, vielleicht sogar im präindustriellen Norau. Sie fragte sich, wie das Gebäude wohl das Wachsen der Boswash-Megalopole überlebt hatte. Aber wie auch immer das geschehen war, es stand da, und als sie jetzt aus der Kutsche stieg, kam ein hoch gewachsener, eckig wirkender Mann mit einem auffällig weißen Haarbüschel an der einen Schläfe aus dem erleuchteten Foyer des Hauses auf sie zu.
»Dr. Ghorbani?«, sagte der Mann und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Basilia Zahar, der Krankenhausverwalter. «
»Das war aber nicht nötig, dass du zu mir herunterkommst, Mr. Zahar«, sagte Rachel. »Und ›Doktor‹ Ghorbani ist meine Mutter. Ich glaube nicht, dass meine bisherige Erfahrung bereits einen Doktortitel rechtfertigt.«
»Nun, dein Ruf geht dir voraus, Miss Ghorbani«, meinte der Mann mit einem müden Lächeln. »Und wir sind froh, dass du hier bist. Ich habe im Wohnbereich des Hospitals ein Quartier für dich vorbereiten lassen. Ich werde deine Taschen hinbringen lassen«, fuhr er mit einer Handbewegung fort. Ein junger Mann war ihm über die Treppe gefolgt und holte jetzt ihre Taschen aus der Kutsche, während Azure sich genüsslich streckte und dann heruntersprang.
»Azure, mein Hauslöwe«, sagte Rachel, als sie bemerkte,
wie Zahars Augen sich weiteten. »Ich hoffe, das wird kein Problem sein?«
»Keineswegs.« Der Verwalter lächelte. »Davon gibt es nicht mehr viele; ich hatte sie schon vermisst.«
»Ich habe Azure schon, seit ich ein kleines Mädchen war«, erklärte Rachel, als der Administrator sie die Straße hinunterführte. »Er hat sich angewöhnt, auf allen meinen Reisen mitzukommen. Hoffentlich bringt das keine Probleme mit den anderen Mitarbeitern.«
»Madame, unsere Mitarbeiter hier werden entzückt sein, endlich jemanden zu haben, der weiß, was zu tun ist. Ich glaube nicht, dass es denen etwas ausmachen würde, wenn du hier mit einem zahmen Ork an einer Kette aufgetaucht wärst«, gestand Zahar geheimnisvoll.
Rachel musste über diese Worte nachdenken, als sie den Weg zum Hospital zurücklegten, der ihr wie eine Hindernisstrecke vorkam.
Die Hauptstraße des Stützpunkts war erst vor kurzem mit Kies belegt worden, war aber bereits wieder schlammig und ausgefahren. An einer Seite hatte man einen hölzernen Steg gebaut, der aber von verschiedenen Querstraßen unterbrochen wurde, und die drei mussten auf ihrem Weg zum Krankenhausgelände mehrfach Schlaglöchern oder
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