Die Nanokriege - Zusammenbruch - Ringo, J: Nanokriege - Zusammenbruch - There Will Be Dragons
schwieriger, als sie sich das je vorgestellt hatte. Jeder Einzelne von ihnen war ein fast perfektes Replikat ihrer Person, ebenso vernunftbegabt, ebenso »lebendig« und ebenso fähig, Entscheidungen zu treffen. Aber sie war es, in der alles ruhte, die über alles befinden musste, und deshalb schickten sie ihr jeden Tag, ja manchmal jede Stunde, Abbilder ihrer Handlungen. An diesen Abbildern hingen meist ihre eigenen Persönlichkeiten, und da die Avatare »sie« waren, waren diese Abbilder auch emotional aufgeladen. Anders ließen sich die vielen
Begegnungen nicht bewältigen, die notwenig waren, um in dem nach dem Fall eingetretenen Chaos wenigstens den Anschein von Ordnung aufrechtzuerhalten. Trotzdem bekam sie allmählich das Gefühl, dass sie anfing verrückt zu werden.
Sie kroch aus dem Bett, steckte die Füße in Pantoffeln und schlappte durch das leere Zimmer zu einem Tisch, der an einer Wand stand.
»Tee, Himbeere«, sagte sie, setzte sich auf den Schwebestuhl und nahm den Tee entgegen, als er vor ihr materialisierte. Sie nippte an dem bittersüßen Gebräu und dachte über die Lage nach, die ihre Avatare ihr berichtet hatten. Bis jetzt waren die Verluste in Norau unter Berücksichtigung der äußeren Umstände gering gewesen. Die Leute reagierten viel besser auf die Katastrophe, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte. Einzelne Gemeinschaften öffneten ihre beschränkten Lager und gaben sich Mühe, weniger Glücklichen dabei zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Im Bereich der Zentralebenen war das leichter als in anderen Landstrichen, da dort für den Augenblick im Übermaß Lebensmittel vorhanden waren. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, sie an andere Ort zu bringen, wäre das hübsch gewesen, aber bis jetzt hatte keiner der Pläne dafür funktioniert.
Sie schüttelte den Kopf und machte sich wieder einmal klar, dass sie anfangen musste, sich langfristig Gedanken zu machen, nicht kurzfristig. Im Augenblick waren die Dinge dabei, sich zu stabilisieren. Aber Paul griff weiterhin jede der Koalition zur Verfügung stehende Kraftwerksanlage an und hatte bisher zwei davon ausschalten können. Außerdem hatte er inzwischen begonnen, Siedlungen anzugreifen, die die Koalition unterstützten. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, Gegenangriffe zu starten, aber alles, was sie bis jetzt versucht hatten, war gescheitert.
»Sheida.« Ein Avatar Ungphakorns war im Raum erschienen, und sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Es war nicht leicht, den Ausdruck eines Quetzacoatls zu deuten, aber er wirkte jedenfalls besorgt.
»Ja.«
»Paul hat das Amricar-Kraftwerk zerstört«, sagte der Quetza ausdruckslos.
»Wie?«, seufzte sie.
»Zuerst ein massiver Energiestoß, der das Kraftfeld durchgebrannt hat, und anschließend hat er ein Selbstmordkommando nachgeschickt. Sie haben die Wachen überwältigt und anschließend das Kraftwerk auf Überlast geschaltet.«
»Wo zum Teufel bekommen die all die Energie her?«, schnaubte sie. »Wir haben alle Mühe, sie davon abzuhalten, unsere Verteidigung zu durchbrechen, und die haben für das genügend Speicher?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich habe Harry den kompletten Bericht gegeben, vielleicht kann er mehr herauslesen. In der Zwischenzeit gibt es andere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Mach’s gut.«
»Du auch«, seufzte sie erneut und zerrte an ihrem Haar. Ein Klingeln ertönte an der Tür, und sie schüttelte den Kopf. »Herein.«
Harry kam mit einem Block in der Hand herein, seine Miene war finster.
»Hast du das von Amricar gehört?«, fragte er und zog sich ein Schwebekissen heran.
Seit sie ihren Sitz nach Eagle Home verlegt hatten, hatte er so etwas wie die Position eines Adjutanten übernommen und befasste sich hauptsächlich mit Dingen von geringerer Bedeutung, die menschliches Eingreifen erforderten, für die sie aber keine Avatare einsetzte. Außerdem hatte er sich bemüht, möglichst ausführliche Informationen
über Pauls Absichten für die nähere Zukunft zu gewinnen.
Seine Schenkelverletzung war versorgt worden, aber er hinkte immer noch leicht. Manchmal fragte sie sich, ob das an der mangelnden Therapie lag oder ob es nur psychosomatisch war. In dieser gefallenen Welt schien es niemanden ohne Narben zu geben.
»Er hat es mir gesagt, aber ich glaube es nicht«, schnaubte sie. »Wie viel Energie haben sie eingesetzt?«
»Fast vierzig Terawatt, und das auf eine Fläche von weniger als einen Quadratmeter
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