Die Narbe
Selbstmord?« Er spürte, wie sich seine Stimme gegen seinen Willen veränderte, distanzierter und professioneller klang.
Ihre Miene verdüsterte sich. »Glaub mir, ich kannte ihn sehr gut. Nie im Leben hat er sich umgebracht, und vor allem nicht auf diese Weise und zu diesem Zeitpunkt. Er hätte ganz sicher mit mir gesprochen. Wir standen uns sehr nahe …« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
»Hatte er denn Feinde? Gab es irgendwelche Auseinandersetzungen in seinem privaten Umfeld?«
»Feinde? Umfeld? Wovon sprichst du? Alexander lebte vollkommen isoliert. Er hatte weder Freunde noch Feinde. Er war zwar Student, aber lebte in keinem Umfeld , wie du es genannt hast.«
Beide schwiegen. Von der Straße drangen gelegentlich undeutliche Verkehrsgeräusche in die Wohnung. In der zunehmenden Dunkelheit fühlte Gerald sich ihr noch näher. Sie saßen dicht nebeneinander. Als sie beide im selben Moment zu ihren Gläsern griffen, musste sie lächeln, aber sie wich seinem Blick aus. Gerald wollte sie berühren, sie küssen. Die Zeit, in der er und Nele an den verrücktesten Orten Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten, in der Nele, wenn sie sich zum Beispiel allein in einem Aufzug befanden, spielerisch den Reißverschluss seiner Hose geöffnet und seinen Schwanz gestreichelt hatte, schien ihm unendlich lange her; schlimmer noch, er glaubte nicht mehr, dass sie jemals wiederkehren würde. Er war ausgehungert, verunsichert, und hier saß unmittelbar neben ihm eine Frau, die er anziehend fand und begehrenswert. Warum probierte er es nicht wenigstens? Was hatte er schon zu verlieren?
Gerald konnte Franziskas Atemzüge hören. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinandergesessen hatten, stellte sie schließlich ihr Glas, ohne daraus getrunken zu haben, auf den Tisch zurück und sagte: »Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich bin müde, und morgen ist ein anstrengender Tag an der Uni.«
Enttäuscht erhob er sich.
»Ja, also …«, begann er langsam.
Sie hob ihre rechte Hand und streichelte kurz über seine Wange, als müsste sie sich in der Dunkelheit orientieren. Dann küsste sie ihn direkt auf den Mund. Sie hielt ihre Lippen geschlossen, aber es war kein flüchtiger Abschiedsallerweltskuss. Sie ließ ihm die Zeit, um den Kuss zu erwidern. Doch in dem Moment, als er die Lippen öffnete, löste sie sich von ihm.
»Es wäre nicht richtig«, sagte sie leise.
Gerald wollte antworten, aber sie legte ihm die Fingerspitzen auf den Mund. Dann öffnete sie die Wohnungstür.
8
»Weißt du was?«, sagte Batzko, am Fenster stehend, den Blick auf den Straßenverkehr gerichtet, »alles Gute im Leben hat mit dem Körper zu tun.«
Gerald sah Batzkos Rücken, ein klar gezeichnetes V. Er trug ein kanarienvogelgelbes, kurzärmeliges Hemd, auf Taille geschnitten. Ein bewusst gewählter, wirkungsvoller Farbkontrast zu seinen schwarzen Haaren und dem Dreitagebart. Angesichts seiner muskulösen Arme hätte man denken können, er öffne gleich das Fenster und flöge mit der Kraft und Leichtigkeit eines Adlers in den Himmel.
»Nenne mir irgendetwas«, fuhr er fort, »was du genießen kannst und was nichts mit den Sinnen zu tun hat. Wir vögeln, wir essen, wir trinken, wir hören Musik, wir schauen aufs Meer. Alles gut, alles wunderbar. Reicht vollkommen. Mit dem Kopf fangen die Probleme an. Wir entwickeln Theorien, die nicht funktionieren. Wir machen Pläne, die schiefgehen. Der Kopf ist immer im Stress, will alles kapieren, alles voraussehen, alles im Griff haben. Wozu eigentlich? »
Gerald sah von der Zeitung nicht auf. »Tu mir bitte einen Gefallen: Setzt dich hin und halt die Klappe, ja? Du nervst.«
Batzko drehte sich um, hob herausfordernd die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. Gleich spannt er seine Muskeln zur Demonstration an, dachte Gerald, wie dieser Lutz. Dann stehe ich auf und knalle ihm eine.
»Sex. Essen. Trinken. Sport. Die ganz einfachen Dinge. Wir haben vergessen, sie zu genießen. Der Körper ist für die meisten doch nur noch Gerüst, damit der Kopf nicht runterrollt. Ich muss nur dich angucken, um zu wissen, dass damit das Elend beginnt. Nimm die Frauen. Vor dem Bett und nach dem Bett gibt es nur Stress und Probleme. Und warum? Weil wir uns einreden, eine Beziehung führen zu müssen (er verzog das Gesicht zu einer Grimasse), weil wir uns einbilden, dass wir uns, wenn wir uns gegenseitig die Ohren vollsäuseln, verstanden fühlen. Das ist doch Scheiße, oder etwa nicht? Soll man für eine Frau
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