Die Narbe
musst wissen, was du tust. Ich bin wohl kein inspirierender Anblick in letzter Zeit.«
Bevor er antworten konnte, verließ sie die Küche und ging ins Badezimmer. Gerald fühlte sich schuldig. Verwirrt und schuldig. Hatte sie sich ihm nicht entzogen, und nicht er ihr? Musste er eigentlich die alleinige Verantwortung übernehmen für alles, was zwischen ihnen passierte? »Verdammt, es reicht«, sagte er zu sich selbst, trank die Flasche aus und stellte sie in die Spüle.
Als er im Flur stand, fiel ihm ein, dass er die Handtücher vergessen hatte. In zwei Schritten war er im Badezimmer. Nele stand vor dem Spiegel, nackt. In der linken Hand hielt sie eine geöffnete Cremedose, die Kuppen des Zeige- und Mittelfingers waren mit weißer Creme bedeckt. Abrupt wendete sie sich Gerald zu. Ihr Blick verriet Unsicherheit, geradezu Panik. Mit dem linken Arm versuchte sie, ihre Brüste zu bedecken, unter deren Oberfläche bläulich-rote Linien durchschimmerten, als hätte jemand ein Netz aus Adern unter die Haut gelegt. Die Schwangerschaftsstreifen lagen wie Maserungen unter ihren Brüsten, ihrem rundlichen Bauch, an den fülliger gewordenen Hüften und Oberschenkeln.
Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und sagte wütend: »Kannst du nicht anklopfen?«
Er stand unmittelbar neben ihr, wagte aber nicht, sie zu berühren. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne. Eine Mischung aus Mitgefühl, Trauer und einem Verlangen nach körperlicher Nähe überwältigte ihn plötzlich. Er legte die Hände vorsichtig um ihre Hüften, und durch einen leichten Druck konnte er ihren Körper, der ihm keinerlei Widerstand bot, so weit drehen, dass er seine Lippen auf ihren Bauchnabel legen konnte.
»Ich will dich. Ich will mit dir schlafen«, flüsterte er, den Mund an ihrer Haut.
Er fühlte, wie sie verkrampfte. Ein Geräusch verriet ihm, dass sie die Cremedose wegstellte. Er spürte ihre Hände auf seinem Kopf, aber sie drückten ihn weder an ihren Körper noch von ihm weg.
»Willst du das wirklich?«, fragte sie. »Obwohl ich aussehe wie eine Tonne und diese Krampfadern wohl niemals mehr weggehen werden? Ich kann mich selbst nicht mehr sehen. Meine Brüste sind nicht mehr so fest wie früher. Sie sind schlaffe Milchtüten. Meine Haut reißt von innen. Nie mehr kriege ich mein altes Gewicht wieder. Nicht einmal mein Gesicht. Alles ist anders. Ich kann meinen eigenen Körper nicht ertragen. Ich kann ihn nicht ansehen, ich hasse ihn. Du kannst mich nicht wirklich wollen. Du lügst.«
Ihre Stimme brach bei diesen letzten Sätzen weg. Sie kämpfte mit den Tränen.
Er schüttelte stumm den Kopf, er konnte nicht sprechen. Er küsste ihren Bauchnabel, mit geschlossenen Augen, weil er die Dehnungsstreifen nicht sehen wollte, die ihn tatsächlich mehr irritierten, als er zugab. Dass sie nicht einfach so mit der Zeit verschwanden, wollte und konnte er sich nicht eingestehen.
Gerald näherte sich mit seinen Küssen ihrer Scham. Ihre Hände lagen weiterhin auf seinem Kopf, mit ihren Fingerspitzen fuhr sie langsam durch sein Haar. Stoß mich nicht zurück, betete er lautlos, lass es einfach geschehen. Er küsste sie intensiver, fordernder, und sie verlor langsam die Anspannung. Sie stöhnte kurz auf; doch es klang mehr wie ein Seufzen, wenngleich er glaubte, darin die aufbrechende Lust zu hören. Ihm wurde bewusst, wie lange er sich danach gesehnt hatte. Seine Hände umfassten und streichelten ihren Po, tasteten nach der Linie in der Mitte – da klingelte das Telefon. Nie zuvor war ihm das Geräusch so laut und hässlich erschienen.
»Lass es klingeln«, sagte er, »es wird schon irgendwann aufhören.« Seine Erektion war so stark, dass er nicht glaubte, auch nur einen einzigen Schritt machen zu können.
»Aber Sevi wird wach«, antwortete sie. Dann küsste sie ihn und flüsterte in sein Ohr: »Lauf nicht weg, Liebster. Und zieh dich schon mal aus, aber nicht alles. Lass mir noch etwas.«
Sie entzog sich ihm, öffnete die Tür und ging in den Flur. Gerald war sich sicher, dass seine Mutter der Störenfried war, da sie das Talent besaß, immer genau dann anzurufen, wenn es nicht passte. Er hörte, wie Nele sich genervt mit ihrem Namen meldete. Dann herrschte Stille. Weder sagte sie etwas, noch legte sie den Hörer auf. Gerald hatte die Hose schon halb ausgezogen, als er spürte, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Die Stille dauerte an, vielleicht waren es nur Sekunden, aber es war, gemessen an dieser Situation, einfach zu lang. Er zog die Hose
Weitere Kostenlose Bücher