Die Narbe
Steuerberater. Warum zum Teufel hatte sie ihn überhaupt angerufen?
»Zum Wohl«, sagte sie in einem förmlichen Tonfall und nahm einen kleinen Schluck. Die Anspannung war ihr deutlich anzumerken. Gerald nickte ihr zu. Das Zimmer kam ihm irgendwie verändert vor, ohne dass er diesen Eindruck hätte konkretisieren können.
»Gerald, ich nehme Menschen sehr intuitiv wahr«, sagte sie plötzlich, »und ich habe dich vom ersten Moment an sympathisch gefunden. Normalerweise brauche ich ziemlich lange, bis ich jemandem vertraue, aber bei dir ist das irgendwie anders. Man spürt einfach, dass du Menschen nicht vorsätzlich verletzt. Ich glaube, das ist für mich die wichtigste Eigenschaft überhaupt.«
Sie machte eine Pause, als suchte sie den Einstieg in das eigentliche Thema. Das Glas hielt sie noch in den Händen. Sie trank einen winzigen Schluck und stellte es dann ab.
»Ich weiß nicht, welche Gedanken du dir über unsere Gesprächsgruppe bei Chateaux machst. Aber vermutlich wirst du es bereits geahnt haben: Ich habe BIID, Arno hat BIID, wie auch Alexander BIID hatte. Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum Arno am letzten Abend so in sich gekehrt war. Er hat sich endlich entschlossen, sich operieren zu lassen, obwohl der Zeitpunkt für ihn alles andere als günstig ist. Aber das soll er dir, wenn überhaupt, selbst erzählen. Der Grund, warum ich dich heute angerufen habe, hat nur mit mir zu tun. Arno hat im Gegensatz zu mir keine finanziellen Schwierigkeiten, sich die Operation zu finanzieren. Ich schon. Auch ich möchte mich operieren lassen. Mir fehlt eben nur das Geld dafür.«
Gerald empfand urplötzlich eine Leere in seinem Magen. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er von Franziska mehr gewollt hatte, als nur neben ihr auf der Couch zu sitzen und ihr Ansprechpartner zu sein. Er hatte sich in sie verliebt. Nun fühlte er sich ausgenutzt. War Geld also der eigentliche Grund gewesen, warum sie ihn gestern Abend eingeladen hatte? Und hatte sie ihn nur angemacht, damit er später ihren Wahnsinn finanzieren würde?
»Nun, schau nicht so entsetzt. Es ist doch meine Sache, oder?«
»Und mein Geld«, gab er patzig zurück.
Sie lachte auf. »Du hast mich missverstanden. Ich will keinen Cent von dir.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte er, und sein Blick schweifte über ihren Körper, als wolle er erkennen, wo sie eine Amputation vornehmen lassen wollte.
»Du bist doch Beamter, oder?«
Er nickte zögerlich.
»Schau, ich bin Studentin. Ich habe keinerlei Sicherheiten. Meine Eltern will ich in diese Geschichte nicht hineinziehen. Ich brauche einfach jemanden, der für mich bei der Bank für den Kredit bürgt. Es geht nur um diese eine Unterschrift. Ich zahle den Kredit monatlich zurück. Das schaffe ich alleine durch die Nachhilfestunden, die ich gebe, und durch meine Ferienjobs. Wir werden unter uns einen Vertrag aufsetzen, der dich absichert, falls mir etwas passieren sollte.«
Alexander Faden ist etwas passiert, dachte er, obwohl es noch keinen Beleg für einen Zusammenhang mit der Krankheit und der Operation gab. Es war zu diesem Zeitpunkt einfach zu früh, einen Zusammenhang zwischen ihr und Alexander herzustellen. Er tat es dennoch, weil er Sorge hatte, Franziska könnte etwas zustoßen.
»Ich verstehe nicht ganz, Franziska. Was ist mit der Krankenversicherung?«, fragte er, obwohl er nach dem Gespräch mit Dr. Wembler die Antwort bereits kannte. Aber das durfte sie nicht wissen. Noch nicht, jedenfalls.
»Die zahlen keinen Cent. Solange BIID nicht offiziell als schwere psychische Erkrankung anerkannt ist, betrachten sie es wie eine Nasenkorrektur oder eine Brustvergrößerung. Der Körper als private Spielwiese, als wäre es mein Freizeitvergnügen. Mehr fällt denen dazu nicht ein.«
»Wie viel Geld wirst du brauchen?«
»Alles in allem ungefähr zwanzigtausend.«
»Oh. Das ist nicht gerade wenig.«
»Ja. Es liegt im Wesentlichen daran, dass wir in Deutschland keinen Arzt gefunden haben. Ich muss nach Belgien ausweichen und dort alles bar bezahlen, die Fahrt, den Klinikaufenthalt, die OP, jede Spritze, jeden Wattetupfer.«
»Wen meinst du mit ›wir‹«?
»Chateaux natürlich.«
Er hätte mit dieser Antwort rechnen können. Dennoch war er so perplex, dass er erst einmal einen Schluck trinken musste. Innerlich hatte er den Schalter bereits auf Kriminalkommissar Gerald van Loren umgelegt. Nun musste er aufpassen, dass er sich nicht vorzeitig verriet.
»Jetzt verstehe ich nur noch Bahnhof. Was
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