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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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Zeit ziemlich durcheinander.«
    »Willkommen im Club. Ist es deine komplizierte Beziehung, von der du in den Therapiestunden berichtet hast?«
    Er streichelte über ihren Oberschenkel und tastete sich langsam höher. Er fühlte sich ungeschickt, geradezu lächerlich, aber Franziska kam ihm entgegen und zog seinen Kopf langsam auf ihren Schoß. Dann streichelte sie über seine Stirn und Haare.
    »Erzähl mir mehr über dich, Gerald.«
    Er fühlte sich gefangen in seiner Position.
    »Was willst du wissen?«
    »Alles natürlich. Wenn du nicht weißt, wo du anfangen sollst, fang einfach bei deiner Kindheit an. Wie bist du aufgewachsen? Wer sind deine Eltern?«
    Er schloss die Augen.
    »Ich bin mehr oder weniger mit meiner Mutter aufgewachsen. Mein Vater war – das heißt, vielleicht ist er es noch – Übersetzer und Dolmetscher …«
    »Was heißt das: vielleicht?«
    »Er hat auf internationalen Messen und Kongressen gedolmetscht. Oder Unternehmer und Politiker auf ihren Auslandsreisen begleitet. Er war also ziemlich oft von zu Hause weg. Einmal hatte er sich in seinem Abflugtermin getäuscht und musste in aller Eile seine Unterlagen in seinem Arbeitszimmer zusammensuchen. Als meine Mutter am Abend Ordnung schaffen wollte, ist ihr sein Notizbuch in die Hände gefallen, eine Art Protokoll seiner diversen Reisen mit Anmerkungen über Hotels, Restaurants, Menschen etc., mit denen er zu tun hatte. Und eine Liste der Frauen, mit denen er während einer Reise oder eines Kongresses geschlafen hatte. Mit Namen, Telefonnummer und einer Rubrik, in der er Kreuze machte, mal eines, mal vier oder fünf. Vielleicht meinte das die Anzahl oder Qualität ihrer sexuellen Begegnungen. Ich weiß es nicht.«
    »Gott, das ist ja schrecklich.«
    »Sie hatte ein paar Tage Zeit, den Schock zu verdauen, bis er von seiner Geschäftsreise zurückkam. Mir hat sie natürlich nichts gesagt, aber ich ahnte damals instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Sie war viel trauriger als sonst. Und es gab kaum eine Nacht, in der ich sie nicht weinen hörte. Als er schließlich zurückkam, gegen Abend, hat sie sich zusammengerissen und ihre Traurigkeit versteckt. Wir haben gemeinsam gegessen; es war fast so wie immer. Mein Vater hatte mir und ihr ein Geschenk mitgebracht, auch wie immer. Aber ich spürte diese merkwürdige Stimmung, diese unglaubliche Beherrschtheit meiner Mutter, die mir Angst machte. Ich weiß noch, dass ich mich früh in mein Zimmer zurückgezogen und so getan habe, als ob ich schlafen würde, aber in Wahrheit konnte ich kein Auge zumachen, weil ich ahnte, dass etwas in der Luft lag.«
    »Hast du die Auseinandersetzung mitgehört?«
    »Ja und nein. Das heißt, ich habe gehört, wie sie sich gestritten haben, aber ich habe nicht genau verstanden, was sie sich einander an den Kopf geworfen haben. Meine Mutter hat mir später von diesem Streit erzählt. Interessanterweise habe ich da behauptet, ihn mitgehört zu haben, obwohl ich in jener Nacht streng genommen kein Wort verstanden habe.«
    »Du hast also intuitiv verstanden, was du gar nicht verstehen konntest, im akustischen Sinne, meine ich.«
    »Ja, das ist etwas kompliziert ausgedrückt, trifft es aber. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie ihm das Notizbuch präsentiert hat und dass mein Vater, statt sich zu entschuldigen oder um Verzeihung zu bitten, lediglich zum Gegenangriff übergegangen sei. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass diese Liebeleien offensichtlich kein Problem gewesen waren, solange meine Mutter nichts davon geahnt hatte. Also solle sie doch einfach diese Liste aus ihrem Bewusstsein streichen und so tun, als hätte sie nicht gesehen, was sie gesehen hat.«
    »Eine reichlich bequeme Lösung. Für ihn, meine ich.«
    »Meine Mutter konnte nicht begreifen, was sie da hörte. Es hat sie wohl mehr verletzt als die Sache selbst. Sie war völlig außer sich. Er behauptete, dass keine dieser Bettgeschichten außerhalb der Kongresse weitergegangen wäre. So, als wäre es ein natürlicher Bestandteil des Gesamtpakets aus Arbeit, Frühstücksbuffet, Fitnessstudio im Hotel und abendliches Abhängen an der Bar. Eine Art Stressabbau zwischen den Laken.«
    »Krass.«
    »Meine Mutter hat geweint, getobt und ihn attackiert. Aber er ist keinen Zentimeter von seiner Position abgewichen. Vorher hatten sie sich praktisch nie gestritten, und nun war alles anders. Jedenfalls packte mein Vater irgendwann in jener Nacht seine Sachen und verließ die Wohnung. Ich habe ihn seitdem nicht

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