Die Narbe
hat Chateaux denn damit zu tun? Ist er ein Spezialist für diese Fälle? Vermittelt er euch an einen Arzt im Ausland? Hat er vielleicht selbst BIID?«
Sie lachte. »Es soll noch Menschen geben, die nicht dieses Krankheitsbild in sich tragen. Aber es ist richtig: Chateaux stellt die Weichen für eine operative Behandlung. Ich gebe ihm das Geld, und er kümmert sich um alles Weitere. Ich brauche nur noch Münzen für den Kaffeeautomaten in der Krankenhauskantine.«
»War es auch so bei Alexander Faden, und wird es bei Arno so sein?«
»Exakt.«
Gerald holte tief Luft. Warum offerierte Chateaux diese Art von Dienstleistung? Hieß das nicht, dass er seiner eigenen Kompetenz als Psychotherapeut nicht ausreichend vertraute? Oder war vielleicht Geld das eigentliche Motiv? Wenn die Operation ganz privat finanziert wurde, dann wäre wohl auch sein Anteil als Vermittler quasi unter dem Tisch bezahlt. Kommt man so zu einem Swimmingpool im Garten? Er griff zu seinem Glas und leerte es in einem Zug. Er beschloss, diese Fragen Chateaux selbst zu stellen; Franziska würde vielleicht Verdacht schöpfen, wenn er zu sehr nachbohrte.
»Das muss ich erst einmal verarbeiten«, sagte er. »Ich denke über die Bürgschaft nach, das verspreche ich dir. Ich muss Verschiedenes berücksichtigen. Du weißt, wir haben ein Kind. Vielleicht brauchen wir eine größere Wohnung, vielleicht kaufen wir selbst etwas. Aber erst einmal interessiert mich …«
»… wie das so ist mit BIID?«
Gerald nickte.
Ohne dass sie sich dessen bewusst zu sein schien, berührte sie mit ihrer linken Hand ihren linken Unterschenkel.
»Durch die Therapie bei Chateaux habe ich erkannt, dass es schon in meiner Kindheit begonnen hat. Immer wieder habe ich mir das linke Bein irgendwo angestoßen, und es hat mir ein seltsames Vergnügen bereitet, die kleinen Verletzungen zu behandeln, ein Pflaster draufzulegen und dann insgeheim an der Wunde zu arbeiten, damit sie sich nicht schließt. Jeder kleinste Kratzer war für mich wie eine Trophäe. Als ich älter wurde, habe ich mein Verlangen nach Verletzungen getarnt, indem ich eine Art von demonstrativer Ungeschicklichkeit entwickelte und mich auch an anderen Stellen gestoßen habe.«
»Willst du damit sagen, dass nur die Wunden am linken Bein für dich …«
»Ja. Das gehört eben auch zu BIID. Es geht immer nur um einen einzigen Körperteil oder um eine einzige Zone. Mir ist der Gedanke, meine Hände zu verletzen oder durch einen Unfall einen Finger zu verlieren, unerträglich. Es ist übrigens nicht das ganze linke Bein, es ist nur der Unterschenkel. Mit den Jahren habe ich ihm immer schwerere Schäden zugefügt. Den Ärzten gegenüber habe ich so getan, als hätte ich mir beim Sport die Verletzungen zugezogen. Muskelfaserriss, Sehnenentzündung, Knöchelverstauchung, Wadenbeinprellung, Achillessehnenruptur, Sprunggelenkverletzungen – ich habe das volle Programm durchgemacht. Ich habe alle hinters Licht geführt, meine Eltern, meine Geschwister, die Ärzte, die Klassenkameraden. Es ist schrecklich, das zu tun, aber noch schlimmer ist, dass man niemandem den wahren Grund erzählen kann.«
»Wann hast du erkannt, dass es BIID ist?«
»Ziemlich spät. Eigentlich erst durch Alexander und die Therapiegruppe. Offen gestanden wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass es dieses Phänomen gibt. Und dann ist da noch eine zweite Sache bei mir, die die BIID-Problematik lange Zeit überlagert hat.«
Sie hielt inne, trank den letzten Schluck aus ihrem Glas, stand auf und ging in die Küche. Gerald hörte durch die geschlossene Tür, wie sie mit der Katze sprach. Als sie wieder zurückkam, nahm sie die Flasche Whiskey von der Anrichte und goss Gerald und sich erneut nach. Sie wirkte nun viel entspannter und gelöster. Gerald spürte den Impuls, sie zu berühren, unterdrückte ihn aber.
»Als Kind habe ich mich wahnsinnig gerne um verletzte oder kranke Tiere gekümmert. Ich war glücklich, wenn ich eine verletzte Katze oder einen Vogel, dem ein Bein fehlte, zum Arzt bringen konnte. Das tun zwar viele kleine Mädchen, aber bei mir hat es nicht aufgehört. Verletzungen, Verstümmelungen, Verwachsungen – das hat mich einfach angezogen. Ich finde äußere Verletzungen, Unfertigkeiten, Handicaps anziehend, irgendwie menschlich. Mir ist der perfekte Mensch ein Graus, Typen wie Lutz, die aus sich eine perfekte, unverwundbare Leistungsmaschine machen wollen, stoßen mich ab. Wenn ich es in einem Satz sagen soll: Ich
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