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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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glaube, dass nur der verletzte Mensch, äußerlich oder innerlich, bei sich selbst ist. Ich finde schön und auch erotisch, was wir nicht können, nicht das, was wir können. Verstehst du? Ich finde, dass unsere Grenzen und Beschränktheiten uns erst zu Menschen machen, nicht unsere Leistung. Wir alle machen uns doch das Leben zur Hölle, indem wir nicht das akzeptieren, was wir sind, sondern es ausspielen gegen das, was wir sein wollen. Schneller, höher, weiter – das ist in meinen Augen die Haltung, die uns das Leben unerträglich macht. Nur der verletzte Mensch, der sich seiner Endlichkeit und Verwundbarkeit bewusst wird, ist ein wahrer und schöner Mensch. So jedenfalls denke ich darüber.«
    »War das bei Alexander Faden ähnlich?«
    Sie zögerte.
    »Alexander hatte kein Helfersyndrom, aber davon abgesehen war er mein Zwilling. Vor seiner Operation haben wir uns ganze Wochenenden in seiner Wohnung eingeschlossen, er mit abgebundenem Arm, ich auf Krücken. Pretending nennt man das in Insiderkreisen. Es klingt grotesk, ich weiß. Zwei Menschen, die sich etwas nehmen, und sich zum ersten Mal in ihrem Leben als ›ganz‹ empfinden. Wir haben unsere Körper gefühlt, wir haben uns gefühlt. Endlich haben wir BIID nicht als Krankheit bekämpft, sondern als Teil von uns selbst bejaht.«
    Gerald erinnerte sich an die Aussage von Frau Kattowitz, der Nachbarin; sie sprach von einer jungen Frau, die mehrmals übers Wochenende in Alexander Fadens Wohnung geblieben war.
    »Ist das der Grund, warum du nicht an einen Selbstmord glaubst?«
    Sie schüttelte langsam den Kopf, und ihre Stimme senkte sich. »Alexander war endlich dort, wo er hinwollte. Der Alltag mag nach einer Amputation vielleicht schwieriger zu bewältigen sein, aber die Schwierigkeiten sind nichts im Vergleich mit der Hölle, die er vor der Operation durchstehen musste.«
    »Könnte es sein, dass Alexander Faden Probleme hatte, von denen du nichts mitbekommen hast? Vielleicht war er ja unglücklich verliebt, hatte Probleme mit dem Studium oder seiner Familie.«
    Sie sprach so langsam, wie man mit einem Kind spricht, das selbst die einfachste Rechenaufgabe nicht versteht. »Es gibt nichts, wirklich rein gar nichts in Alexanders Leben, das ich nicht gekannt hätte. Deshalb bin ich mir absolut sicher, dass er keinen Selbstmord begangen hat. Stell dir vor, ich habe mich sogar bei der Polizei erkundigt, ob sie wegen eines Gewaltdelikts ermitteln.«
    »Und? Wie haben die reagiert?«
    »Ich bin mehrmals durchgestellt worden, bis ich schließlich bei einem Kommissar Batzko gelandet bin.
    »Batzko?«
    »Ja. Genau.« Sie schaute ihn überrascht an. »Kennst du ihn etwa?«
    Gerald spürte, wie er rot wurde.
    »Ein wenig«, sagte er hastig. »Ich habe vor kurzem doch ein Controlling-Seminar bei der Polizei durchgeführt, und da war er an ein paar Sitzungen beteiligt. Ein eher rauer Bursche, war zumindest mein Eindruck.«
    »Ja. Einer von der dominanten Sorte.« In ihrer Stimme lag kein Argwohn. »Er hat nur gesagt, dass aus polizeilicher Sicht keine Hinweise auf ein Verbrechen vorlägen und der Fall daher abgeschlossen ist. Es sei denn, ich hätte einen ganz konkreten Verdacht. Den ich natürlich nicht hatte.«
    »Hast du eigentlich Alexander Fadens Familie kennengelernt?«
    »Nein. Er hatte nur losen Kontakt zu ihnen, zumindest seit er studierte. Ich kannte auch seine Kommilitonen nicht. Freunde hatte er nicht. Unsere Erkrankung hat letztlich zwischen uns beiden eine ebenso große Nähe ermöglicht, wie sie die Distanz zu anderen erhöht hat.«
    Nach diesem Satz fielen beide in ein langes Schweigen. Sie hatte über Alexander Faden gesagt, was sie hatte sagen können. Und Gerald hatte um Bedenkzeit in Bezug auf das Geld gebeten. Gern hätte er ihr gestanden, was er für sie empfand, aber sein Hals war wie zugeschnürt. Also legte er einfach seine rechte Hand auf ihre linke, die auf ihrem Oberschenkel lag. Sie schien nicht überrascht. Aus dem Treppenhaus drangen Geräusche in die Wohnung. Eine Tür wurde geöffnet, man hörte Stimmen, Lachen. Dann Schritte auf der Treppe.
    »Bist du deshalb gekommen?«, fragte sie nach einer Weile, in der beide den direkten Blickkontakt vermieden.
    Ja, sagte er zu sich selbst. Weil ich mit dir schlafen will. Weil ich große Lust auf dich habe und explodiere, wenn ich nicht zumindest versuche, mit dir zu schlafen.
    »Vielleicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Offen gestanden ist mein Leben, vielmehr mein Gefühlsleben, seit einiger

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