Die Narbe
mehr gesehen und nie mehr etwas von ihm gehört.«
»Mein Gott. Wie alt warst du damals?«
»Sechs Jahre, drei Monate, siebzehn Tage.«
Gerald legte die Hand vors Gesicht, weil er spürte, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Er hatte weit über ein Jahr gebraucht, bevor er es Nele erzählt hatte, und nun sprach er darüber mit einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte.
Franziska bewegte die Kuppe ihres Zeigefingers sanft über seine Lippen, als wollte sie ihm für das Vertrauen danken, das er ihr geschenkt hatte.
»Es muss schrecklich für dich gewesen sein und dich fürchterlich verunsichert haben. Hast du danach überhaupt jemandem vertrauen können?«
»Meine Mutter hat alles getan, um mich den Verlust meines Vaters möglichst wenig spüren zu lassen. Sie war immer für mich da. Ich war auch nicht unglücklich in meiner Kindheit. Die Probleme begannen erst später, als es darum ging, sich auf jemanden einzulassen.«
»Wie meinst du das? In Bezug auf Freundinnen?«
Er nickte. »Es war harmlos, solange es nur um unverbindliche Flirts ging. Erst als ich mich verliebte und eine ernsthafte Beziehung begann, spürte ich immer diese ohnmächtige Angst, verlassen zu werden, ganz plötzlich und ohne Erklärung. Natürlich wurde ich schon verlassen, wie es eben jedem passiert, aber jedes Mal brach die Welt für mich zusammen. Was für die Mädchen manchmal nur eine schlichte Mitteilung war, ein Brief von zwei Zeilen oder wenige Sätze am Telefon, war für mich stets eine Katastrophe. Umgekehrt war ich unfähig, eine Beziehung zu beenden. Auch wenn ich mich todunglücklich fühlte, konnte ich nicht Schluss machen. Ich konnte es einfach nicht.«
Sie streichelte über seine Wangen. Er hielt die Augen weiter fest geschlossen. Es war ein einziger kläglicher Versuch, die Kontrolle nicht restlos zu verlieren.
»Willst du damit sagen, du hast eine Art Trennungstrauma, weil du als Kind erfahren hast, wie grausam Trennungen sein können? Und deshalb kannst du niemanden verlassen? Du hast also eher durch dein Verhalten deine Freundin provoziert, damit sie dich verlässt. Richtig?«
Er nickte, weil er zu überrascht war, um zu antworten. Überrascht, weil Franziska das ausgesprochen hatte, was er viele Jahre lang nicht erkannt hatte oder nicht hatte erkennen wollen.
»Gerald van Loren«, sagte sie. »Armer Gerald. Und dennoch hast du heute Abend deine Frau und deinen Sohn verlassen und bist zu mir gekommen«, sagte sie und hörte auf, ihn zu streicheln. »Du musst ziemlich verzweifelt sein. Und du musst ganz schön viel für mich übrighaben.«
Er biss sich auf die Lippen und nickte. Er hätte sagen können, dass er tatsächlich noch nie eine Freundin betrogen oder verlassen hatte, dass er aber kurz davor stand, es zu tun, weil er es satthatte, jeden Abend mit Nele zu streiten, und weil er es satthatte, seit Monaten keinen Sex mehr zu haben. Und dass er in sie, Franziska, verliebt war.
Aber das alles sagte er nicht. Er legte nur seine rechte Hand sanft in ihren Nacken, zog ihren Kopf zu sich herab und küsste sie.
Batzko saß vorne, in der Nähe des Polizeipräsidenten, wie üblich. Gerald, der als einer der Letzten eintrudelte, musste mit einem Platz am anderen Ende des großen Tisches im Besprechungszimmer vorliebnehmen. Er wich einem direkten Blickkontakt mit seinem Partner möglichst aus, konnte aber – während die Kollegen aus den Kommissariaten ihren Kurzbericht ablieferten und die Pressesprecherin Tanja Hillenbrand ihre Notizen machte – erleichtert feststellen, dass Batzko gar nicht in seine Richtung schaute. Er starrte auf seine Aufzeichnungen und hob nur den Kopf, wenn Dr. Vordermayer, der Polizeipräsident, das Wort ergriff. Gerald war davon ausgegangen, dass Batzko ihn mit seinen Blicken umbringen würde. Aber dem war nicht so. Batzko ignorierte ihn einfach.
Die Besprechung verlief unspektakulär und kurz. Batzko resümierte die Fälle, die sie für die Staatsanwaltschaft abgeschlossen hatten, und erhielt dafür ein knappes Nicken von Dr. Vordermayer. Bald danach löste sich die Runde auf. Batzko ging absichtlich langsam aus dem Besprechungszimmer. Gerald machte einen Abstecher in die Flurküche. Als er mit seiner Kaffeetasse das Büro betrat, hob Batzko kurz die Hand, als hätten sie sich in diesem Moment zum ersten Mal gesehen.
»Hör zu«, begann er und räusperte sich, »ich hatte den Autoschlüssel schon in der Hand, als meine Ex anrief. Unser Sohn, der älteste, ist mit dem Fahrrad
Weitere Kostenlose Bücher