Die Narbe
Es muss ein echt netter Typ gewesen sein, freundlich, ruhig, nie von oben herab wie so viele andere hier, meinte der Hausmeister. Deshalb ist ihm die Sache auch so auf den Magen geschlagen, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Zwei Sanitäter verließen in diesem Moment das Büro. Batzko nickte dem Polizisten flüchtig zu und zog Gerald mit sich. Er holte seinen Dienstausweis aus der Hosentasche, in drei Schritten hatte er die Sanitäter erreicht.
»Wie sieht es da drinnen aus?«
»So, dass wir nicht mehr gebraucht werden«, sagte der jüngere der beiden und wechselte die schwarze Diensttasche von der rechten in die linke Hand.
»Handelt es sich nur um einen Toten? Keine weiteren Personen? Keine Verletzten?«
Der Sanitäter schüttelte den Kopf. »Reicht doch, oder?«
»Was lässt sich über die Todesursache sagen?«
»Befindet sich noch in der Brust des Toten. Es handelt sich um so eine Art Zettelspieß, wie man sie auf Schreibtischen findet. Nur steckt er jetzt im Herz des Toten. Näheres kann sicher der Doc sagen, er ist noch am Tatort. Sorry, aber wir müssen jetzt wirklich los.«
Batzko und Gerald gingen weiter bis zur Absperrung. Die breite Eingangstür aus undurchsichtigem Milchglas stand offen. Im Eingangsbereich befanden sich drei Schreibtische, Zimmerpflanzen, zwei Raumteiler, die zugleich als Pinnwände fungierten, ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender. Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen und Kappen fotografierten und verteilten Positionsmarkierungen auf den Teppich. Nun zeigte sich auch der Notarzt, der offensichtlich hinter dem Schreibtisch gekniet hatte. Er zog seine Handschuhe aus, schaute auf die Uhr und holte sein Handy aus der Arzttasche. Gerald konnte von seiner Position lediglich Schuhe und Unterschenkel des Toten sehen.
Batzko machte sich durch einen kurzen Pfiff bemerkbar. Brenner reagierte als Erster. Der schwer übergewichtige Leiter der Abteilung, der in dem weißen Anzug aussah wie ein Eisbär mit Vollbart, grinste über die ganze Breite seines Gesichts und winkte in weit ausholenden Bewegungen, so als stünde er an Deck eines Schiffes und Batzko am weit entfernten Ufer. Durch entsprechende Handzeichen machte er deutlich, dass sie noch circa eine Stunde zu tun hätten und er Batzko dann anrufen würde.
Gerald wurde urplötzlich von einer merkwürdigen, unheimlichen Vorahnung ergriffen. Er dachte an Franziska, an die Gruppentherapie, an Arno und die Tatsache, dass dieser gerade erst seine Firma gegründet hatte. Nun begann es in seinem Kopf zu rauschen, das Schlucken bereitete ihm Schwierigkeiten. Wie in Trance stieg er langsam über das Flatterband und näherte sich dem Eingang, bis er das rechteckige Messingschild neben der Tür lesen konnte: Intersafe. Internet Security Solutions . Und darunter, in kleinerer Schrift: Geschäftsführer: Arno Reuther.
Gerald schaute erneut in den Büroraum, als hoffte er, der Herrenschuh wäre kein Herrenschuh, die dunkle Anzughose keine Anzughose und der Tote nicht der sympathische Patient aus Chateaux’s Runde und Franziskas enger Freund. Der engste Freund, nach Alexander Faden. Er machte zwei Schritte, bis er das Gesicht des Toten erkennen konnte. Dann verharrte er regungslos, und Batzkos freche Stimme ertönte in seinem Rücken: »Was ist los, Alter? War der Büroschlaf heute Morgen nicht ausreichend?«
Gerald reagierte nicht. Wenn er sich jetzt umdrehte, würde er Batzko eine knallen. Also wartete er eine gefühlte halbe Minute und ging dann zurück zur Absperrung. Zu seiner Überraschung hob Batzko das Flatterband in die Höhe und gab ihm den Vortritt. »Scheiße, Mann. Du siehst aus, als müsstest du gleich neben dem Hausmeister in die Kloschüssel kotzen.«
Ohne Batzko ins Gesicht zu schauen, antwortete Gerald: »Lass uns schnell weg hier! Ich geb einen Kaffee aus. Bis die Spurenermittlung fertig ist, lassen wir die Jungs von der Streife die Befragungen durchführen.«
Die Espressobar im Tal war gut besucht. Gerald suchte nach einem ruhigen Platz in der Ecke, etwas abgeschirmt durch eine hohe Grünpflanze. Der Geräuschpegel, ein diffuses Gemisch aus Hintergrundmusik, dem Aufzug, der Klimaanlage und den Gesprächen der Gäste, war hoch. Aber vermutlich hätte Gerald in der Stimmung, in der er sich befand, jeden Geräuschpegel oberhalb eines Friedhofs um Mitternacht als zu laut empfunden.
Batzko bestellte einen Cappuccino. Seitdem er einen Anfängerkurs Italienisch an der Volkshochschule zumindest zur Hälfte
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