Die Narbe
für ihn keine Möglichkeit geben würde, sich den Fragen der beiden Polizeibeamten zu entziehen.
»Sie wissen also bereits davon? Wann und von wem haben Sie es erfahren?«
»Das ist schrecklich! Dann war er es also doch. Ich bin gestern nach dem Mittagessen nach Nürnberg gefahren, um einen ehemaligen Studienkollegen zu treffen. Im Radio wurde durchgegeben, dass in einem Geschäftshaus am Isartor ein Mann zu Tode gekommen ist, jedoch ohne nähere Angaben. Mir fiel ein, dass Herr Reuther dort für seine Firma Büroräume angemietet hatte. Aber ich habe die Assoziation sofort wieder verworfen, weil ich mir kein Motiv vorstellen konnte. Wenn er Juwelier oder meinetwegen Antiquitätenhändler gewesen wäre – aber eine Software-Firma? Das schien mir absurd.«
»Ein Raubmord ist nicht auszuschließen«, sagte Batzko, »aber wir gehen von einem persönlichen Hintergrund aus.«
Dr. Chateaux seufzte, richtete sich in seinem altmodischen Arztstuhl mit der gepolsterten Lehne auf und verschränkte die Hände ineinander, als bereite er eine Yoga-Übung vor. Batzko schaute seinen Kollegen mit einem Blick an, der zu sagen schien: Wenn der Psychoklempner meint, wir verlassen jetzt den Raum, weil er ein paar Mantras in die laue Sommerluft ablassen will, täuscht er sich aber gewaltig.
»Ist es richtig, dass Arno Reuther zu einer Operation an seinem Rückenmark entschlossen war und Sie das Geschäftliche mit einer Klinik im Ausland abwickeln wollten, wie Sie es schon bei Alexander Faden getan haben? Für zwanzigtausend Euro? Oder dreißigtausend? Oder noch mehr?«, fragte Gerald.
Zu seiner Überraschung suchte der Arzt keinerlei Ausflüchte. »Das ist im Wesentlichen zutreffend«, sagte Chateaux leise. Er fixierte Gerald mit einem intensiven Blick, als müsse er seine Vorstellung von ihm revidieren und sich langsam auf ein neues Gegenüber einstellen. Auf ein Gegenüber, das innerhalb kürzester Zeit Dinge in Erfahrung gebracht hatte, die nicht in der Gruppentherapie zur Sprache gekommen waren.
»Und was ist im Wesentlichen nicht zutreffend?«, bohrte Batzko nach. »Die Summe? Liegt ja ein paar Euro über dem monatlichen Beitragssatz der Krankenkasse, oder?«
Der Arzt lächelte in der Art, wie sie Gerald schon vertraut war: mit geschlossenem Mund, in einer einzigen schnellen Bewegung. »Wegen der komplizierten Operation mit hohen Risikofaktoren waren es vierzigtausend Euro, die Arno Reuther mir gegeben hatte. Aber warum fragen Sie mich das? Wo ist der Bezug zu diesem fürchterlichen Verbrechen?«
»Wir wissen nicht, ob es einen Bezug gibt. Aber Alexander Faden und Arno Reuther litten an derselben Erkrankung und waren beide bei Ihnen in Behandlung. Das ist eine Parallele, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Es liegt uns daran, möglichst viel über dieses Krankheitsbild zu erfahren. Herr Reuther hat Ihnen also für eine Behandlung Geld gegeben, deren Kosten unsere Krankenkassen nicht übernehmen, weil BIID noch nicht im offiziellen Krankenatlas aufgenommen ist.«
»Respekt, meine Herren. Sie haben gut recherchiert. Aber ich bin mit der Mehrheit meiner Kollegen, die sich mit dieser Erkrankung enger befassen, der Meinung, dass in vielen Fällen eine Operation die einzige erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeit darstellt. Auch wenn es gewissermaßen die Kapitulation eines klassisch therapeutischen bzw. medikamentös-neurologischen Ansatzes bedeutet, indem wir den Wunsch des Patienten realisieren, anstatt ihn zu ändern oder in seiner Dringlichkeit abzumildern.«
»Seltsam nur, dass sich diese Erkenntnis noch nicht bis zu den Krankenkassen durchgesprochen hat«, konstatierte Batzko.
»Nun, das hat nicht zwingend rein medizinische Gründe«, antwortete Chateaux und fand langsam zurück zu seinem melodiösen, leicht belehrenden Tonfall. »Da sind zunächst einmal die zeitraubenden bürokratischen Hürden in unserem Gesundheitssystem. Erschwerend wirken generelle Vorbehalte, weil BIID oberflächlich betrachtet mit modischen Veränderungen unseres Körperbildes einhergeht.
»Verstehe ich nicht. Geht es etwas konkreter?«, unterbrach Batzko.
»Sehen Sie, meine Herren, die Zeiten verlangen sehr viel von uns. Viele Menschen fühlen sich den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft hilflos ausgesetzt. Sie wissen nicht, wie lange sie noch ihre Arbeit haben, wie belastbar ihre Beziehungen sind, ob sie morgen schon ihre Koffer packen müssen, weil die neue Arbeitsstelle nicht mehr dort ist, wo sie leben. Unser Leben wird
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