Die Narbe
gleichgültig war, von einem Blatt Papier ablesen.
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Ich habe ein schulpflichtiges Kind. Ich brauche Geld. Volker und ich brauchen das Geld. Ja, und? Keiner sieht mein Gesicht. Keiner kennt meinen wahren Namen. Keiner begrabscht mich. Wollen Sie jetzt Moralapostel spielen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Gerald, »es ist auch verständlich, dass Sie bei unserem ersten Gespräch eine Schutzbehauptung gewählt haben. Was uns mehr interessiert, ist die Frage …«
»Am Anfang«, unterbrach ihn Marleen Kattowitz, und es schien, als habe sie Gerald gar nicht zugehört, »stand der PC in meinem Schlafzimmer. Aber ich konnte nicht mehr schlafen. Ich hatte das Gefühl, tausend Kameraaugen wären überall in meinem Bett, feuchte, glupschige Augen, die in meinen Körper kriechen, die mich überall befingern. Nach jedem Gespräch muss ich unter die Dusche, um mich nicht übergeben zu müssen.«
Bei den letzten Sätzen sah sie zu Batzko, der mit verschränkten Armen auf der Couch saß. Eine Pause entstand. Es war spürbar, dass Marleen Kattowitz das loswerden wollte und dass sie gleichzeitig sicher war, keine Reaktion darauf zu bekommen.
»Ich bin überzeugt, dass Alexander Faden nicht so war«, sagte Gerald schließlich, um den Moment ihrer Verletzbarkeit und Offenheit auszunutzen.
Frau Kattowitz wich seinem Blick aus, biss sich auf die Lippen, dann liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie kamen so plötzlich, als lägen sie seit langem dort und hätten nur auf das Stichwort gewartet, um zu fließen. Marleen Kattowitz machte keinen Versuch, sie zu verbergen. Es schien Gerald, als sei sie geradezu erlöst, endlich nichts mehr verbergen zu müssen.
»Hatten Sie ein Verhältnis mit Alexander Faden?«, fragte Batzko mit der Direktheit eines Wurfgeschosses.
Wieder lachte sie kurz auf. Es war ein trotziges und verzweifeltes Lachen. Dann machte sie eine träge, wegwerfende Handbewegung. Sie schaute Batzko direkt an. »Das käme Ihnen recht, nicht wahr? So denken Sie doch! Anders können Sie vermutlich gar nicht denken, oder? Ich ficke mit dem schüchternen Alexander, diesem netten, hübschen Jungen, der so süß und weltfremd ist wie Harry Potter, und Volker kriegt es raus, geht in seine Wohnung und schmeißt ihn wie eine Abfalltüte vom Balkon. Jemanden, der sich nicht wehren kann. Na? Das wollten Sie doch hören, geben Sie es ruhig zu.«
»Ich bin über Alexander Fadens Erkrankung informiert«, sagte Gerald.
Keine Reaktion.
»Frau Kattowitz, Alexander war BIID-Patient und hat deshalb eine Amputation vornehmen lassen.«
Marleen Kattowitz suchte in den Taschen des Bademantels nach einem Taschentuch. Doch sie fand keines. Gerald half ihr aus, und zum ersten Mal entdeckte er eine Art von Wärme und Dankbarkeit in ihrem Blick.
»Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihren Unterstellungen. Wir, also Alex und ich, haben nur geredet. Wir haben uns ja über das Babysitten kennengelernt. Mit der Zeit haben wir uns angefreundet. Ich habe von meinen Problemen erzählt, er von seinen. Es stimmt, ich wusste von BIID. Es hat mich anfänglich geschockt, dann – wie soll ich sagen – irgendwie beschäftigt. Er hat durch die Krankheit so viel über seinen Körper gewusst, wie ich das eigentlich nur von Frauen kenne. Er hatte ein intensives Gespür für seinen Körper, eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Verstehen Sie das denn nicht? Das war so anders für mich, dass ein Mann so sensibel und einfühlsam ist. Für die Männer, mit denen ich zu tun habe, besteht der Körper doch nur aus ihrem Schwanz. Die wollen nur wissen, dass er noch größer und stärker und schöner ist als die der anderen. Für die beginnt ein guter Tag mit einer Morgenlatte, das ist alles, weiter denken die überhaupt nicht.«
Es klingelte plötzlich an der Haustür. Sie schaute erschreckt auf die Uhr, als hätte sie den Zeitpunkt verpasst, an dem ihre Tochter von der Schule kam. Aber Marleen Kattowitz schüttelte nur den Kopf und sagte: »Egal. Werbung. Oder ein Nachbar. Ich mache nicht auf.«
»Hat Volker Pollinger das auch so gesehen? Oder hat er sich geprügelt, weil er befürchtet hat, da wäre doch noch mehr? Hat er sich vielleicht, in einem gewissen Sinne, Alexander Faden unterlegen gefühlt, nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, weil da diese besondere Nähe zwischen Ihnen bestand? Eine Nähe, an die er mit seiner ganzen Kraft und Männlichkeit nicht heranreichte?«, fragte Batzko und beugte sich nach vorne.
Sie
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