Die Narben der Hoelle
ängstigt ihn nicht. Er weiß sich geborgen und sicher, solange er nur so weiterwandern darf.
Er fühlt sich unendlich wohl …
Durch das große Fenster sah er die Blätterkronen der Bäume.
Sonst nichts. Nur Äste voller maigrüner Blätter, die sich manchmal ein wenig im schwachen Wind bewegten.
Seit Ewigkeiten schien er nun schon hin und her zu dämmern zwischen seinem Gang auf den Wellen und dem Betrachten der Baumkronen.
Der Wellenteppich war ihm wesentlich lieber als die Bäume.
Seine Wanderung über das Meer war schmerzfrei und voll Wohlgefühl. Immer wenn er die grünen Blätter sah, hatte er Schmerzen. Das Pochen in seinem Kopf fing stets ganz sacht an, um sich dann in rasender Geschwindigkeit zu einem höllischen Stechen zu steigern. Die Blätter wurden dunkelgrün, dann blau und kurz danach schwarz.
Alles wurde schwarz, auch das weiße Bettlaken.
Dann kamen sie: Grelle Blitze, die vielfarbig durch das Dunkel fuhren wie explodierende Feuerwerkskörper am Nachthimmel. Wenn die Blitze kamen, musste er auf den Knopf drücken, das wusste er.
Die Spritze kam von rechts. Rechts von ihm war die Zimmertür. Er hatte sie noch nie gesehen. Er konnte seinen Kopf nicht bewegen.
Jemand sprach mit ihm, und er verstand kein Wort.
Dann öffnete sich ganz schnell wieder die stahlblaue Himmelskuppel über ihm. Glücklich sah er hinüber zum warmen Licht der Sonne.
Und konnte weitergehen.
Vorgestern hatten sie ihm eine Menge dummer Fragen gestellt und alle seine gekrächzten Antworten mit heller Begeisterung quittiert.
Warum sollte er denn nicht wissen, wie er hieß, wie alt er war oder wo er wohnte?
Sie hatten ihm erzählt, dass dies hier ein Zimmer im Bundeswehr-Zentralkrankenhaus in Koblenz sei und dass er eine Kopfverletzung habe.
Ob er sich denn erinnere, wie es dazu gekommen war?
Da waren die Schmerzen wieder unerträglich geworden.
Sie hatten nichts mehr gefragt, sondern ihn schnell auf den Wellenteppich geschickt.
»Wie lange?« Er war fassungslos.
»Sechs Wochen, Herr Clasen«, wiederholte der Oberstabsarzt, »aber Sie machen tolle Fortschritte, das muss ich sagen!«
Mediziner müssen wohl Zuversicht verbreiten, dachte er. Lächerliches Geschwätz. Noch immer fühlte sich sein Kopf an, als wäre er von einem Kampfpanzer überrollt worden. Ohne die Spritzen, die er regelmäßig erhielt, hätte er die Schmerzen nicht ausgehalten.
,Tolle Fortschritte’ …
Na gut, ein paar Dinge hatten sich verbessert. Er hing nicht mehr am Tropf. Und er konnte seinen Kopf hin und her bewegen, wenn auch langsam. Die Blitze waren schwächer geworden. Und die Blätter blieben grün.
Aber sechs Wochen? Er lag hier schon sechs Wochen?
Unfassbar.
Das Sprechen machte ihm Mühe, dennoch fragte er mit belegter Stimme: »Kann mir mal irgendjemand erzählen, was mit mir eigentlich los ist? Und was passiert ist?«
»Natürlich kann ich das tun«, antwortete der Stationsarzt freundlich. »Aber mir wäre es eigentlich lieber, wenn Sie mir erst einmal erzählen würden, woran Sie sich erinnern. Falls es da Lücken gibt, will ich sie gern zu schließen versuchen.«
Erinnern.
Gar nicht einfach, das hatte er schon gemerkt. Natürlich wusste er, wer er war. Ihre Frage danach hatte ihn überrascht. Er war Johannes Clasen, Hauptmann in der Bundeswehr. Und er hatte eine Freundin. Corinna.
Wo war die eigentlich?
Er sollte demnächst wieder nach Afghanistan in den Einsatz. Paule würde auch mitkommen. Sie waren zusammen auf dem Truppenübungsplatz mit dem Hubschrauber durch eine Höhle geflogen, eine gewaltige Höhle, hoch wie die stahlblaue Kuppel über den Wellen, auf denen er wanderte.
Natürlich durfte er all das niemandem erzählen; das war geheim, hatte der General gesagt.
Aber was wollten sie denn sonst noch alles wissen?
Er wollte sich nicht erinnern. An was auch?
Außerdem explodierten dann immer wieder die Feuerwerkskörper. Er wollte nur zurück auf seinen Wellenteppich.
Gerade waren die scheußlichen Leute wieder da gewesen. Alle in Zivil. Selbst der Mann, der sich als Oberst Heidebrandt vorgestellt hatte, trug einen Zivilanzug. Grauenvoller Schnitt übrigens.
Zum dritten Mal waren sie nun schon gekommen. Immer hatte der Oberst denselben blaugrauen Zweiteiler getragen, dessen Hosenbeine eine Idee zu kurz waren. Die Farbe und die Kunststofffasern legten den Schluss nahe, dass das Stück aus einer LKW-Plane geschneidert war. Natürlich kein Bundeswehr-LKW. Obwohl der Anzug in Olivgrün auch nicht viel
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