Die Narben der Hoelle
dort!«
Johannes nickte.
Wie sagte Paule immer: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
26
August
Afghanistan
Neben dem Bett saß Abdul Kalakani auf einem weißlackierten Stuhl und starrte auf seine Hände, die, zu Fäusten geballt, auf seinem weißen Kaftan lagen.
Hashmat erschrak, als er einen Blick auf seinen Fürsten warf. Seine Gesichtszüge waren viel schärfer geworden, als er sie in Erinnerung hatte. Tiefe Furchen durchzogen die dunkle Haut, die Wangenknochen traten spitz hervor, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Und da war ein kaum merkliches, ganz leichtes Zittern um seine Mundwinkel.
Die mannshohen stoffbespannten Gestelle, die man als Sichtblenden um das Bett, den Nachttisch und den Stuhl herum aufgestellt hatte, bildeten eine kleine abgeschlossene Zelle in dem großen Krankensaal.
Die trüben Augen gesenkt, fragte Kalakani leise: »Bist du denn stark genug? Hast du schon wieder die … Kraft dafür?«
»Vollkommen, verehrter Abdul!« Hashmat versuchte, sich ein wenig zu Kalakani hinzudrehen und unterdrückte ein Stöhnen, das ihm der Schmerz auf die Lippen trieb. »Ich habe sogar schon die ersten Schritte unternommen. Wir brauchen Informationen. Aber zuverlässige. Ein paar hat Hedayat schon besorgt. Und er ist weiter dran – hat alles aufgeschrieben, was er bisher erfahren konnte. Ich habe seinen Bericht hier in der Schublade.« Er deutete mit dem Kopf auf das Nachttischchen.
Kalakani rührte sich nicht. Das leichte Zittern seiner Hände war die einzige erkennbare Bewegung an ihm.
Ein Wrack. Hashmat war fassungslos, dass der mächtige Mann bisher nichts unternommen hatte, um dem Mörder seines Sohnes auf die Spur zu kommen.
Der blutige Überfall der Besatzer auf die Höhle, bei dem der Deutsche die Kinder und Sayed ermordet hatte, lag schon fast drei Monate zurück. Während er, Hashmat, im Fieber gelegen hatte, viele Operationen überstehen musste, mehr tot als lebendig dahingesiecht war, hatte der Fürst sich seinem Schmerz ergeben, statt zu handeln. Sayeds Bruder Naim, gerade achtzehn Jahre alt geworden, hatte Hashmat vor vierzehn Tagen hier in Kunduz im Krankenhaus aufgesucht und berichtet, sein Vater habe sich völlig in sich zurückgezogen und sei seit dem Tod Sayeds kaum noch ansprechbar.
»Als ob er selbst ermordet wurde«, erzählte der junge Mann mit Verzweiflung in der Stimme. »Er sitzt tagelang in seinem Arbeitszimmer, isst fast nichts mehr und betrachtet das große Bild von Sayed, das er hat aufstellen lassen. Nur um seine Geschäfte kümmert er sich noch, aber auch das nur mit halber Kraft.«
Naim hatte Tränen in den Augen, als er fragte: »Was soll nur werden, Hashmat? Sayed und du, ihr wart seine große Hoffnung! Und nun ist Sayed tot und du bist … « Der Junge blickte verstohlen auf die Bettdecke und verstummte.
» … ein Krüppel!«, ergänzte Hashmat brutal. »Sag es ruhig! An der linken Hand nur noch drei Finger, und ein Bein ab dem Oberschenkel amputiert.« Dann schaute er starr geradeaus und fragte: »Was hat er bisher unternommen?«
»Was meinst du?«, fragte Naim verständnislos.
»Was werde ich schon meinen?«, fuhr Hashmat mit bebender Stimme auf. »Hat dein Vater etwas unternommen, um herauszufinden, welcher von den ungläubigen Hunden Sayed auf dem Gewissen hat? Wer von ihnen meinen kleinen Neffen und den anderen Jungen ermordet hat, und wer … « Er schluckte und fuhr leise fort: » … und wer für das alles verantwortlich ist?« Dabei machte er mit seiner gesunden Hand eine vage Bewegung über seine Bettdecke.
»Er hat nichts dergleichen getan, Hashmat. Er trauert seit Wochen … «, sagte Naim eingeschüchtert.
»Hör mir genau zu, Naim: Sag deinem Vater, wir werden Sayed rächen! Wir werden meinen kleinen Neffen rächen und seinen Freund. Und ich werde mich selbst rächen, in’shallah! « Damit sank sein Kopf wieder auf das Kissen. Ruhig fügte er hinzu: »Sag ihm, ich bitte ihn um seine Hilfe. Allein werde ich es nicht schaffen … «
Und nun saß Kalakani hier, ein Schatten seiner selbst. Der mächtigste Clanchef im Norden Afghanistans – ein geschlagener Mann. Aber Hashmat konnte nicht zulassen, dass er sich in seinen Schmerz vergrub. Er brauchte ihn, sein Geld und seine Verbindungen. Der Mörder war längst aus Afghanistan verschwunden. Es würde schwer werden, ihn in Deutschland aufzuspüren und zu stellen.
Aber genau das musste geschehen!
Nur zu gern hätte Hashmat das selbst getan. Doch dazu war er nicht mehr in der Lage. Dafür
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