Die Narben der Hoelle
wenn sie gar nicht da war …
»Den kann ich gut gebrauchen, danke«, hörte er sie sagen und sah auf ihre Hand, mit der sie ihm ihre Tasse hinhielt. Es war eine kleine Hand mit gepflegten kurzen Fingernägeln, die nicht bemalt waren.
»Wie lange machen wir das nun eigentlich schon?«, fragte er sie in dem Versuch, sie von ihrer Frage abzulenken.
»Was denn?«, fragte sie unschuldig zurück und blickte ihn über den Tassenrand hinweg mit ihren blauen Augen freundlich an.
Die Augen waren der Wahnsinn, fand Johannes. Sie waren ihm gleich in der ersten Minute aufgefallen. Die Ärztin hatte tiefschwarzes Haar und kobaltblaue Augen. Faszinierend, fand er. Ob die Haare gefärbt waren?
»Na, diese Sitzungen meine ich … «
»Sie haben jetzt schon keine Lust mehr? Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Die haben mir in Koblenz gesagt, dass ich hier nicht die ganze Zeit stationär behandelt werden müsste. Dass ich zwischendurch mal wieder nach Hause fahren könnte … «
Sie sah ihn nachdenklich an und antwortete: »Wissen Sie, Herr Clasen, wenn es nur um die Amnesie ginge, dann wäre das auch kein Problem. Ihren posttraumatischen Kopfschmerz haben Sie ja inzwischen ebenfalls gut im Griff. Aber da ist leider auch noch die Depression, um die wir uns kümmern müssen.«
Er wusste natürlich, dass sie recht hatte, und schwieg.
Mit einem leichten Lächeln sagte sie dann: »Es geht Ihnen jetzt besser und es gefällt Ihnen nicht mehr im Krankenhaus.«
»Nein, nein … «
»Lassen Sie es gut sein, Herr Clasen«, lachte sie. »Ich kann Sie verstehen. Es wird Ihnen langsam langweilig … «
»Mit Ihnen wird es mir nie langweilig«, platzte er heraus und schämte sich augenblicklich für seine Dämlichkeit, für diese plumpe Anmache. Sie konnte das ja nicht anders deuten!
»Entschuldigen Sie bitte! Das ist mir so herausgerutscht. Ich bin ein ungehobelter … «
Ein ganz leichter rötlicher Hauch war bei seinen Worten über ihr Gesicht gehuscht. Dann sagte sie ernsthaft: »Ach, lassen Sie nur. Sie sind in letzter Zeit nicht viel mit Menschen zusammen gewesen. Da kommt man aus der Übung.«
Dann straffte sie sich ein wenig, nahm ihr Klemmbrett mit dem Schreibblock zur Hand und fragte noch einmal: »Nun, wie ist es? Erzählen Sie mir noch einmal etwas über den Wellenteppich? Was Sie fühlen, wenn Sie darübergehen … «
So hatte es angefangen. Viele Gespräche dieser Art lagen nun hinter ihnen. Mehrmals in der Woche saßen sie zusammen. Karen Terhoven war die Person, die inzwischen mit weitem Abstand am meisten über ihn wusste.
Von allen Menschen, die er kannte.
Fast war ihm unheimlich, wie viel von sich er ihr gegenüber preisgegeben hatte.
Und er hatte das gern getan. Es hatte nicht lange gedauert, dann empfand er keinerlei Scheu mehr, mit ihr gemeinsam ,auf die Reise zu gehen’. So nannte sie das.
,Möchten Sie mit mir zusammen auf eine Reise zu sich selbst gehen?’ Er fragte sich, ob das eine übliche Formulierung von Psychologen war.
Egal. Die Frage passte zu ihr. Allein mit dieser Frage hatte sie ihn aufgeschlossen.
Inzwischen hatte er es nur noch mit ihr zu tun. Anfangs hatte sich ein ganzes Heer von Spezialisten mit ihm beschäftigt. In den ersten vierzehn Tagen hier in Freiburg folgte eine Untersuchung auf die andere, ein Gespräch auf das nächste.
Schließlich kam Dr. Terhoven allein zu ihm und sagte: »Die Diagnose, die Sie schon in Koblenz erfahren hatten, hat sich erhärtet, Herr Clasen. Sie leiden an einer Kongraden Amnesie. Was das ist, das wissen Sie ja schon.«
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und blickte ihn freundlich aus ihren umwerfenden Augen an. »Oder haben Sie dazu noch irgendwelche Fragen?«
»Eigentlich nur eine: Wann werde ich mich wieder erinnern können?«
Sie sah ihn an. »Es tut mir leid, aber da werden Sie noch viel Geduld brauchen«, sagte sie sanft.
Mit der Zeit erfuhr er viel über die Eigentümlichkeiten dieser Amnesie und über die Chancen, sie zu überwinden. Er begriff, dass niemand vorhersagen konnte, wann er seine Erinnerung zurückgewinnen würde.
Und dass es keineswegs sicher war, dass er sich jemals wieder vollständig würde erinnern können.
Bestürzt machte er sich klar, dass er schlimmstenfalls für den Rest seines Lebens akzeptieren musste, was in dem Bericht stand. Dass er nie selbst wissen würde.
Da hatten die Bauchtritte angefangen.
Sie begannen stets mit erbärmlicher Angst. Plötzlich stieg sie in ihm auf, er begann unkontrolliert zu
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