Die Naschmarkt-Morde
auch nachzuforschen. Weil, so konnte es wirklich nicht weitergehen …
VIII/3.
Seit dem frühen Morgen ging ihm ein Geruch nicht aus dem Sinn. Er hatte ihn auf dem Weg ins Büro überfallen und klebte nun in seinem Gedächtnis. Dieser Duft regte seine Fantasie an und war Ursache dafür, dass seine Magensäfte äußerst stimuliert reagierten. Infolgedessen hatte er schon am späten Vormittag trotz des üblichen Gabelfrühstücks einen Bärenhunger. Das Gabelfrühstück hatte aus zwei Schwarzbrotscheiben und zwei butterweichen Quargeln 81 bestanden, deren intensiver Geruch sich im gesamten 2. Stock der k. k. Polizei-Direction ausbreitete. Als Zentralinspector Ferdinand Gorup Freiherr von Besanez über den Gang eilte und dabei den aus Nechybas Zimmer kommenden Pospischil fast umrannte, herrschte er ihn an: »Sagen Sie, wie riechen Sie denn? Ihre Körperausdünstung geht ja auf keine Kuhhaut! Wie heißen Sie überhaupt? Was? Pospischil …? Ah, Sie sind der, der so gerne mit der Presse plaudert! Wie sind Sie denn überhaupt adjustiert? Sie haben lauter Schmutzspritzer auf dem Sakko, sind unrasiert, und ein Besuch beim Haarschneider würde Ihnen auch nicht schaden. Wissen Sie was? Das ist ein dienstlicher Befehl: Sie gehen auf der Stelle ins nächste Tröpferlbad 82 und waschen sich dort. Bei der Gelegenheit lassen Sie auch gleich vom Bader die Haare schneiden und sich rasieren. Punkt 2 Uhr nachmittags erwarte ich Sie gewaschen, rasiert und frisiert zum Rapport in meinem Büro. Treten Sie weg, Sie Schande des Polizeiagentenkorps!«
Nechyba, der die Standpauke durch die Zimmertür hindurch mitgehört hatte, grinste schadenfroh und murmelte: »Ich glaube, ich werd in Zukunft öfters Quargeln essen …«
Nach dieser kurzen Ablenkung meldete sich sein Hungergefühl wieder. Dieser vermaledeit köstliche Geruch … Kruzitürken! … Süßes Kraut, das gemeinsam mit Zwiebeln und Speck gedünstet wurde. Dieser Duft entfachte sein Verlangen nach einem Gericht, das er schon längere Zeit nicht mehr gegessen hatte: Krautfleckerln!
Knapp vor Mittag entschloss er sich, das Büro zu verlassen, auf den Naschmarkt zu gehen und dort ein schönes Krauthäuptel sowie ein paar Zwiebeln zu erstehen. Heute Abend würde er Speck auslassen, in dem heißen Fett die Zwiebeln rösten, mit etwas Zucker karamellisieren, dann das fein geschnittene Kraut zum Dünsten dazugeben, inzwischen einen Nudelteig machen und ihn zu kleinen rechteckigen Fleckerln schneiden. Sie würde er in kochendes Wasser werfen, kurz aufkochen lassen, abseihen und danach mit dem gedünsteten Kraut vermengen … Herrlich!
Er stieg bei der Oper aus der Tramway, ging durch die Operngasse, überquerte den Karlsplatz und tauchte in den Bauch von Wien – den Naschmarkt – ein. Über dem Markt hing wie immer eine Glocke von Viktualiengerüchen, die sich mit menschlichen und tierischen Ausdünstungen mischten. Angenehm betäubt von den vielfältigen Gerüchen, Stimmen und Eindrücken, schob sich Nechyba mit knurrendem Magen durch das Menschengewühl. Jetzt gegen Ende des Sommers war das Angebot an Gemüse besonders üppig: Neben grünen Erbsen, Fisolen 83 , Kohl, Kohlrüben, Karotten, Karfiol 84 , Rotkraut, Erdäpfeln, Kürbissen, Gurken, Paradeisern 85 , Kukuruz und Schwammerln gab es mittlerweile auch schon wieder frisch eingelegtes Sauerkraut. Auch das Obst hatte Saison: Tiefblaue, rote und hellgrüne Trauben aus dem Süden, goldig gelbe oder blutrote Äpfel, Birnen aus dem Norden und Westen, alle Arten des Kernobstes sowie Waldbeeren. Nechyba konnte nicht umhin, sich eine riesengroße Birne zu kaufen. Voll Gier biss er in ihr süßes Fleisch, sodass ihm der Saft am Kinn herunterrann und den Bart verklebte. Wie besessen nagte er das Obststück rundum ab, bis er nur mehr einen winzigen Butzen in den klebrigen Fingern hielt. Den ließ er auf den Boden fallen, wo er sich zu allerlei anderen Abfällen gesellte. Die klebrigen Finger aber lutschte er – so wie es sonst nur Lausbuben tun – einzeln ab und trocknete sie danach sorgfältig mit dem Stofftaschentuch. Sein Appetit war fürs Erste gestillt, und er konnte sich in Ruhe nach einem geeigneten Krauthäuptel umsehen. Als er sich an einem Pferdefuhrwerk vorbeidrängte, auf dem pyramidenartig Krautköpfe aufgetürmt waren, sah er plötzlich eine bekannte Gestalt: Alphonse Schmerda. Den Lausbuben, den er vor einigen Wochen beim Stehlen von Äpfeln ertappt hatte. Augenblicklich überkam Nechyba berufliche Neugierde, und so
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