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Die neue Menschheit

Die neue Menschheit

Titel: Die neue Menschheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chad Oliver
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haben. Wenn nicht, war es ihr auch egal.
    Varnum wollte sie nicht körperlich. Er wünschte sich Wärme, Verständnis, wollte sich ihr mitteilen können. Er rückte näher und versuchte, nicht an ihre haarigen Beine zu denken. Er spürte ihr Herz kräftig schlagen.
    Er streichelte sie. »Dieh.«
    »Varnum«, wisperte sie. »Schlaf.«
    Er klammerte sich an sie, voll Angst, daß er in einen Abgrund der Einsamkeit stürzen würde, ließe er sie los. Er fühlte sich ein wenig besser.
    Allmählich entspannte er sich, und Diehs Körper gab nach.
    Schließlich schlief er.
     
    Am Morgen, als das goldene Tageslicht das Land überflutete, erwachte er zu etwas Unüblichem.
    Der Junge war bereits aus dem Nest, eifrig bei seinen so wichtigen kindlichen Beschäftigungen. Das war wie sonst auch.
    Die Tageswärme hatte die Vögel herbeigerufen, die nun zwitschernd und tschilpend auf den Bäumen saßen. Das war vertraut.
    Er hörte den Bach, seinen Bach, fröhlich plätschern. Auch das war wie immer.
    Er hörte Spürblut. Das war ein völlig fremder Klang.
    Er betete.
    Schrie.
    Flehte.
    »Er lebt«, sagte Varnum mehr zu sich als zu Dieh. »Warum ist er nicht gestorben?«
    Er drückte die Lippen auf Diehs Stirn und rollte aus dem Nest. Er stand auf.
    Er schaute und lauschte.
    Da war Spürblut. Mit wilder Entschlossenheit stapfte er aus dem Lager. Seine Muskeln hoben sich wie verknotete Schnüre unter der Haut ab. Sein ganzer Körper glitzerte von Schweiß. Seine Augen stierten auf etwas sehr, sehr Fernes.
    »Die leuchtende Stadt«, leierte Spürblut. »Die leuchtende Stadt. Die leuchtende Stadt.« Seine Stimme hob sich, überschlug sich. »Sie wartet auf uns! Dort! Jetzt! UNSERE Stadt!« Seine Stimme senkte sich wieder, wurde zum Singsang. »Zurück! Zurück zu den ersten Nestern! Zurück, wo die Schiffe aus dem Himmel schweben. Die leuchtenden Städte! Die leuchtenden Städte! Die Rettung! Rückkehr in die Welt des Überflusses …«
    Varnum ging auf ihn zu, doch dann hielt er an. Was konnte er tun? Es war nur das Gebrabbel eines Wahnsinnigen. Die unbekannten Worte sagten den Leuten überhaupt nichts.
    Und doch lauschten sie. Sie wichen Spürblut aus, aber sie lauschten seinen Worten.
    Wer wußte, welche angeblich gelöschten Erinnerungen dadurch erwachten? Worte konnten tödlich sein. Mit Worten mußte man vorsichtig umgehen. Die Leute waren nicht weltklug. Sie konnten leicht geführt, ja verführt werden durch Versprechen, Visionen, Anschauungen …
    Spürblut wußte, wo die ersten Nester waren. Alle Leute wußten es. Er erinnerte sich an den Weg am Bach entlang, dem sie durch Sturm und bittere Kälte gefolgt waren. Er erinnerte sich an zu viel, oder an nicht genug.
    Er durfte diesen Weg nicht nehmen!
    Das war Varnums Gesetz! Ein so ehernes Gesetz, daß es für immer unausgesprochen blieb. Ein Gesetz, das begonnen hatte, als die Leute sich hinter der Höhlentrennwand versteckt und den Schritten der schweren Stiefel unter dem Felsüberhang gelauscht hatten, wo die Knochen verstreut gewesen waren …
    Die Gebeine der Leute, die es nicht geschafft hatten. Die Leiche von Ohnenamen.
    Die Gerippe der Hoffnung und Verzweiflung und des Versprechens.
    Wenn Spürblut den Weg allein machte, war es schlimm genug. Wenn er jedoch auch noch die Leute mitnahm …
    Warum starb er nicht?
    Die Monitoren waren vielleicht immer noch dort und auf das ganze Gebiet eingestellt. Relais würden durch das flackernde Grau des Nichtraums klicken, Signale durch die schmutzige Atmosphäre der Erde summen …
    Das durfte nicht passieren.
    Natürlich könnten die Monitoren längst inaktiv oder lange schon entfernt worden sein. Es mochte keinen Ira Luden mehr geben – oder keine Erde. Dem Universum mochte es völlig verborgen bleiben, was Spürblut tat oder nicht tat.
    Doch die sicherste Vorbeugung gegen Katastrophen war, sie unmöglich zu machen. Wenn das nicht ging – wenn das Unmögliche an sich unmöglich war –, mußte man das Beste tun, das man konnte.
    Man mußte nachhelfen, damit die Chancen für einen gut standen.
    Man ging nie vermeidbare Risiken ein.
    Man verließ sich nicht auf das Glück.
    Spürblut durfte den Weg nicht nehmen. Zu viel stand auf dem Spiel.
    Alles!
    Er mußte aufgehalten werden.
    Varnum stand still. Sein narbiges, ledriges Gesicht war unbewegt. Nur seine verkniffenen Augen schienen Leben in sich zu bergen. Es waren keine Augen, die sich mit einer Niederlage abfinden würden.
    Diese Augen beobachteten Spürblut.
    Varnum wartete auf

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