Die neue Menschheit
er das Wort nicht kannte – ein Haustier gefunden.
Die junge Antilope hatte natürlich keine Hörner. Sie war von einem hellen Braun und besaß noch seine dunklen Babyflecken und hatte große sanfte Kitzaugen. Mit seinem linken Vorderbein stimmte etwas nicht, als Regenfreund es vorsichtig absetzte, konnte es nicht laufen.
Die Antilope war ein Weibchen.
Alle sammelten sich um das Tier, betrachteten es und lächelten. Alle wollten es berühren. Im Augenblick vergaßen sie Spürblut.
Es war nicht schwierig, zu rekonstruieren, was geschehen war. Die Mutter des Tieres war erlegt und das Junge verwundet worden. Die Jäger hatten Fleisch und waren nicht hungrig. Und Regenfreund hatte Mitleid empfunden. Er wollte das Tier nicht töten, überließ er es aber sich selbst …
Er hatte das Junge mit zu den Nestern gebracht.
Lebend.
Das Bein konnte vermutlich heilen. Es wäre nicht schwer, es zu schienen. Futter wäre das größere Problem. Das Tier war noch sehr jung und brauchte Milch. Aber es gäbe eine Möglichkeit. Auch die Menschen waren Säugetiere, und einige der Frauen stillten ihre Babys.
Doch wenn die Antilope überlebte, wäre sie zahm. Man könnte sie Haustier nennen oder domestiziert. Und ein Weibchen war es obendrein.
Varnum schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte er.
Er ging und holte seinen Speer. Wortlos bahnte er sich einen Weg durch die von dem Antilopenjungen entzückten Leute. Sorgfältig zielte er auf das zitternde, hilflose Wesen und stieß ihm den Speer geradewegs durchs Herz.
Es blutete nicht sehr. Es war sofort tot. Die dunklen schönen Augen blieben offen.
»Fleisch«, sagte Varnum. »Nichts weiter.«
Er machte sich daran, den Kadaver mit einem Steinmesser zu zerlegen. Viel Fleisch war es nicht, aber was war, würde zart sein.
Er spürte den allgemeinen Schock um sich.
Er konnte ihn nicht ignorieren. Genausowenig konnte er eine Erklärung geben.
Er gab Regenfreund ein besonders zartes Stück. Es war die einzige echte Entschuldigung, zu der er fähig war. Regenfreunds Augen waren todtraurig. Er zögerte sehr lange, ehe er das Fleisch nahm, dann drehte er sich um.
Varnum verteilte den Rest des Fleisches und brachte Weißhaar ein gutes Stück.
Noch einmal sagte er, so, daß alle es hören konnten: »Fleisch. Nichts weiter.«
Dann ging er weg. Er fühlte sich völlig allein.
Er verstand natürlich, was er getan hatte. Aber das war ein geringer Trost. Er konnte niemanden Einblick in seine Überlegungen geben. An sich bedeutete das Töten des hilflosen Tieres nichts. Varnum war nicht sentimental. Doch seinen Leuten eine Freude zu rauben, war etwas anderes. Sie hatten wenig genug.
Und er hatte Regenfreund weh getan und so eine Mauer zwischen ihnen errichtet. Das tat auch Varnum weh.
Aber er hatte es tun müssen.
Es war also dazu gekommen. Nicht völlig unerwartet. Varnum hatte sich schon lange überlegt, was er tun mußte.
Er hatte vielleicht sein erstes Gesetz erlassen. Es war weder ein leichtes, noch populäres. Aber ein Führer, der keine unangenehmen Entscheidungen zu treffen imstande war, war kein Führer.
Dieses Antilopenjunge war mehr als ein Tier. Es war eine Weltanschauung – und eine sehr gefährliche noch dazu. Mit dem Wachsen des Tieres würde auch sie wachsen.
Und das durfte nicht geschehen.
Varnum war zu einem festen Entschluß gekommen. Katastrophen ließen sich nur vermeiden, indem man sie unmöglich machte. Man konnte nicht einfach abwarten und hoffen, daß sich alles zum Besten wendete. Sich auf das Glück zu verlassen, war die Philosophie des Verlierers.
Katastrophen?
Nun, Katastrophen gab es in vielerlei Form.
Es mußte kein reißendes Raubtier sein, das einem das Genick durchbiß. Eine Katastrophe konnte durchaus die Gestalt einer unschuldigen kleinen Antilope haben.
Vor allen einer weiblichen Antilope.
Angenommen, das Junge wurde zur erwachsenen, zahmen Antilope. Angenommen, sie bekam selbst Junge, was so gut wie unvermeidlich war, wenn man nicht auf einen Tierkeuschheitsgürtel zurückgriff.
Mit der Zeit würde es eine ganze Herde werden.
Eine Herde domestizierter Antilopen.
Die Vorteile waren offensichtlich, und das war das Problem. Die Leute würden jederzeit erreichbares Fleisch haben. Sie konnten die Tiere auch melken.
Na und?
Die Menschen würden einen Riesenschritt auf dem Weg machen, der schließlich zu genau der Situation führte, der zu entfliehen sie sich entschieden hatten.
Eine sichere Vorratswirtschaft bedeutete eine höhere
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