Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
beim Jurastudium 37.7 Prozent. Von allen jungen Männern aus Akademikerfamilien wählten durchweg 85 Prozent ein Studium, von allen jungen Frauen aus diesem Milieu 75 Prozent. Jugendliche aus dem Umfeld der Facharbeiter erreichten zu sechs bis sieben Prozent eine Hochschule; aus dem Umfeld der an- und ungelernten Arbeiter kamen dagegen maximal zwei Prozent. Besaßen Akademikerkinder 1950 aufgrund ihrer sozialen Herkunft von vornherein eine zwanzigmal höhere Chance auf ein Studium als Arbeiterkinder, hatten sie auch 1990 noch immer eine 15-mal bessere Chance.
In den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende hat sich ein unzweideutiger Vorsprung des Nachwuchses von Akademikern und Abiturienten gehalten oder noch weiter herausgeschält. Die Chancen der seit jeher benachteiligen Klassen haben sich dagegen, wenn man sich die marginale Öffnung zugunsten der Studenten aus diesen Milieus vergegenwärtigt, nicht grundlegend verbessert, weil sich die Sperrbezirke in der Mentalität der Herkunftsfamilien nicht verändert haben. Im Gegenteil: Die Soziale Ungleichheit wächst, wie die Komposition der Studentenschaft auch im neuen Jahrhundert verrät, eher weiter an.
Differenziert man die Studentenpopulationen nach bestimmten Herkunftsmerkmalen, treten Privilegierung und Benachteiligung noch einmal deutlich hervor.
1. Zur «sehr begünstigten» Gruppe gehören Jugendliche mit Vätern, die Selbstständige, beamtete Akademiker und Angestellte mit Abitur waren, denn sie stellten 1990 Studienquoten von 82.67 Prozent.
2. Eine «begünstigte» Gruppe besaß Väter, die mittlere Beamte und Angestellte waren, sie kamen auf eine Studiumsquote von 28 Prozent.
3. Als «ausgeglichen» wurde eine Gruppe bezeichnet, deren Mitglieder nichtakademische Selbstständige, Beamte und Angestellte ohne Abitur waren; hier lauteten die Studienquoten 6,15 und 13 Prozent.
4. «Benachteiligte» besaßen als Väter Bauern und Facharbeiter, sie stellten null bzw. sechs Prozent.
5. Die «sehr Benachteiligten» kamen durchweg aus den Familien von an- und ungelernten Arbeitern, sie verharrten bei einer Studiumsquote von zwei Prozent.
Die Bildungsreformen sind zwar vielen jungen Leuten zugute gekommen. Doch das «enorme Beharrungsvermögen» positiver oder negativer klassenspezifischer «Chancenunterschiede» hat die Chancenungleichheit de facto vergrößert. Die hohe Selektivität auch des reformierten deutschen Bildungssystems beruht nicht etwa, wie eine antiquierte dogmatische Kritik lautet, primär auf der traditionellen Dreigliederung. Denn die entscheidenden Größen sind von dem institutionellen Regelwerk ziemlich unabhängig: das sind Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit. Sie werden ganz und gar durch den Sozialisationsprozess und den Einfluss des Familienverbandes vermittelt. Denn dort werden die Weichen für die Habitusprägung, die Sprachkompetenz, das Begriffsdenken, die Leistungsorientierung gestellt. Auf diesem Sockel bauen auch die Ausbildungsergebnisse der Gymnasial- und Universitätszeit wieder auf. Und wenn viele Hochschulabsolventen nach den Examina auf das Feld der «feinen Unterschiede» (Bourdieu) treffen, machen sich diese frühen Prägungen erneut geltend. Diese Dominanz des Familieneinflusses lenkt noch einmal auf die fundamentale Bedeutung der sozialen Herkunft, in der Regel auch des Vaterberufs hin. Deshalb halten sich die Mehrheiten des Nachwuchses aus Akademiker- und Angestelltenfamilien sowohl auf dem Gymnasium als auch auf der Universität. Längst vor dem Überwechseln in das höhere Bildungssystem wird daher frühzeitig in vielfacher Hinsicht über die Lebenschancen der Kinder entschieden. Eine hilfreiche Korrektur ist nur mit großem Schulungsaufwand und hohem materiellen Beistand möglich.
Für eine Bildungspolitik, welche das hochgespannte Ziel der Verbesserung der Chancengerechtigkeit ernst nimmt, ergibt sich daraus eine schwer abweisbare Konsequenz. Die vorschulische Ausbildung zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr, welche den Belastungen durch die soziale Herkunft insbesondere der Kinder mit einem Migrationshintergrund kompensatorisch wie die Ganztagsschule entgegenwirkt – sie muss endlich allgemein verbindlich in allen Bundesländern eingeführt werden. Anders lassen sich offenbar die starren Ungleichheitsgrenzen nicht auflockern und Schritt für Schritt überwinden. Das ist freilich ein Projekt, das ohne milliardenhohe Kosten nicht verwirklicht werden kann. Den staatlichen Subventionen, die
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