Die Nonne und der Tod
das wusste und mir folgen würde, wenn er erfuhr, dass ich mich davongestohlen hätte. Aber Paul würde das Feuer nicht unbeaufsichtigt brennen lassen, also konnte er Richard von meinem Verschwinden nicht so bald erzählen, und das verschaffte mir etwas Zeit. Und selbst wenn Richard mich dann fand, würde er mich kaum gegen meinen Willen zurück in die Höhle zerren. Ich war sogar sicher, dass er für mein Handeln Verständnis hatte.
Auf dem Weg zum Rathaus achtete ich auf die Rattenkadaver, und mir fiel auf, dass es nicht mehr geworden waren, eher sogar weniger. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, wusste ich nicht. Ich betrachtete auch die Menschen, denen ich begegnete, suchte mit den Blicken nach Anzeichen der Krankheit in der Menge. Ich sah zwei reiche Männer, die Masken trugen, sonst fiel mir niemand auf.
Auf dem Rathausplatz patrouillierten Soldaten, sonst hielten sich nur wenige Menschen dort auf. Ich sprach einen Bettler an, der an einer Hausfassade saß. Er hatte nur ein Bein und stank schlimmer als mein altes Kleid.
»Entschuldige, Bruder«, sagte ich höflich. »Weißt du, ob der Rat heute tagt?«
»Wenn du meinst, ob die da drin sind«, er zeigte mit einer schwielenbedeckten Hand auf das Rathaus, »dann ja, sind sie. Was sie da drinnen machen, weiß ich nicht.«
»Ich danke dir.«
Sein Blick glitt zu meinen Händen, so als erwarte er ein Almosen für seine Auskunft. Ich hatte noch nicht einmal ein Stück Brot dabei, also lächelte ich nur entschuldigend und wandte mich von ihm ab.
Unschlüssig und mit langsamen Schritten ging ich über den Platz. Es überraschte mich, dass die Soldaten den Bettler dort sitzen ließen, wo sie doch auf dem Domplatz selbst die vertrieben, die nur kurz stehen blieben. Anscheinend gingen sie mit unterschiedlicher Strenge vor.
Trotzdem wich ich in eine der Gassen zurück, als sie näher kamen. Sie trugen ihre volle Rüstung, so als befänden sie sich auf einem Feldzug, an ihren Speeren flatterten lange gelbe Wimpel, und ihre Schärpen waren ebenso gelb. Die Helme funkelten in der Sonne, auf der Brust trugen sie das Adlerwappen und je ein Schwert in der Scheide ihres Waffenrocks. Es musste heiß sein in der Rüstung und dem Kettenhemd, aber sie ließen sich nichts anmerken.
Das waren keine Soldaten wie die, die mich und die Schmuggler verfolgt hatten. Sie wirkten … gefährlicher , ein anderes Wort fiel mir nicht ein.
Der Bettler beugte vor ihnen ehrerbietig den Kopf, aber sie schienen ihn nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Da wurde mir klar, dass es nicht mangelnde Strenge war, die sie davon abhielt, ihn zu vertreiben. Es hatte nur einfach keine Bedeutung für sie, ob er dort saß oder nicht.
»Willst du etwas kaufen, Schwester, oder nur meinen Eingang versperren?«
Ich zuckte zusammen, als ich auf einmal angesprochen wurde. Ich war so in Gedanken gewesen, dass mir nicht aufgefallen war, dass ich vor der Tür eines Geschäftes stand. Es gehörte einem Handschuhmacher. Proben seiner Arbeit lagen auf einem Holztisch vor der Tür.
Der Handschuhmacher, ein junger, freundlich wirkender Mann mit einem stattlichen Bauch, zeigte mir ein scheues Lächeln. »Ich wollte dich nicht erschrecken, aber die Geschäfte laufen so schlecht, dass jeder Kunde, der sich in meinen Laden verirrt, darüber entscheidet, ob ich die nächste Miete bezahlen kann.«
Durch die Ladentür und eine offen stehende Hintertür konnte ich bis in seine Werkstatt blicken. Zwei kleine Jungen hockten dort und zogen Leder auf hölzerne Finger. Im Hintergrund stillte eine Frau einen Säugling. Sie bemerkte meinen Blick, stand auf und schloss die Tür zur Werkstatt.
Der Handschuhmacher lächelte, aber ich konnte sehen, dass ihm die Reaktion der Frau – seiner Frau, wie ich annahm – peinlich war. »Margrite fürchtet sich vor Hexerei seit dieser Sache im Zisterzienserkloster. Jemand hat ihr erzählt, sie müsse sich vor Fremden in Acht nehmen, denn die könnten den bösen Blick haben. Entschuldige, Schwester.«
Wenn sie wüsste, dass ich die Hexe bin, die alle suchen …, dachte ich, und ein Teil von mir wollte darüber lachen, doch dann sah ich die Soldaten, die über den Platz patrouillierten, und der Drang verschwand. »Schon gut, wer weiß, ob sie nicht recht hat.«
»Mein Bruder ist einer von ihnen«, sagte der Handschuhmacher. »Einer von wem?«, fragte ich, dann bemerkte ich seinen Blick, und ich fügte hinzu: »Den Soldaten?«
»Das ist die Leibgarde der Familie Gyr. Mein Bruder
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