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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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unruhig.
    Wilbolt tat so, als hätte er die Störung nicht gehört. »Von ganzem Herzen wünschte ich mir, ich könnte euch gute Nachricht geben, doch Gott will unsere Stadt und ihre Einwohner offenbar prüfen.«
    Die Stille, die sich mit einem Mal über den Platz legte, war beinahe unheimlich. Nie hatte ich geglaubt, dass so viele Menschen so ruhig sein konnten.
    »Er wird es nicht tun«, flüsterte Jacob. »Die Tore bleiben geschlossen.«
    »Heute Morgen erfuhr ich, dass die Seuche in der Gasse der Gerber aufgetreten ist.« Ein Raunen ging durch die Menge. Wilbolt sprach lauter, um sich Gehör zu verschaffen. »Es sind nur zwei Fälle, und wir glauben nicht, dass wirklich Grund zur Sorge besteht. Trotzdem möchten wir euch bitten, wachsam zu sein und Kranke den Soldaten und Stadtwachen zu melden. Wenn wir alle Umsicht üben und Vorsicht walten lassen, wird dieser Spuk schon bald vorbei sein.«
    »Was ist mit den Toren?« Wieder der Mann von vorhin. Und ein anderer rief: »Die Tore auf!« Und dann noch mal: »Die Tore auf!« Immer mehr riefen diese Forderung, skandierten sie, bis daraus ein Chor wurde, der über den ganzen Platz hallte. In der Ferne rollte dumpfer Donner über das Land.
    Wilbolt hob die Arme. Seine weiten Ärmel rutschten bis zu den Ellenbogen nach unten. »Der Stadtrat hat sich seit heute Morgen mit diesem Thema befasst. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, aber wir sind der Überzeugung, dass es unter diesen Umständen besser ist, vorläufig auf eine …«
    Weiter kam er nicht. Der Aufschrei der Menge war der eines wilden Tiers. Ein Ruck ging durch sie, ein Beben wie das von Muskeln unter Fell, dann warf sich die Masse nach vorn.
    Doch die Soldaten hielten dem Ansturm stand. Mit den stumpfen Enden ihrer Speere schlugen sie auf die Menschen ein, versuchten sie zurückzutreiben. Wilbolt und seine Ratsherren wichen nach hinten. Soldaten hoben die Schilde, als erste Steine, die man vom Boden auflas, Stöcke, Krüge, sogar Schuhe über die Menge flogen.
    Daraufhin floh der Rat mit wehenden Umhängen ins Rathaus. Die Türen fielen zu, scheinbar lautlos, denn ihr Knallen ging im Geschrei der Menge unter.
    »Weg hier!«, sagte Richard.
    Jacob legte seinen Arm um mich, zog mich aus der Menge, die uns wie die Strömung eines Flusses mitreißen wollte. Wir drängten uns an Männern mit wutverzerrten Gesichtern und an schreienden Frauen vorbei, während ein Blitz über den grauen Himmel zuckte und Donner folgte. Die Luft knisterte und schmeckte süß.
    »Zu den Toren!«, schrie eine junge, wohlhabend aussehende Frau direkt neben mir. Ihre Stimme stach in mein Ohr. »Lasst sie uns aufsprengen!«
    Sie sah sich auffordernd um, aber niemand nahm ihren Ruf auf. Diejenigen, die dazu bereit gewesen wären, wollten zunächst das Rathaus stürmen, die anderen, Friedlicheren würden ihr nicht folgen. Sie wiederholte ihren Aufruf noch zweimal, dann sackten ihre Schultern nach unten. Resigniert blieb sie stehen.
    Ich drehte mich zum Platz, als die Schreie anschwollen und aus der Wut Entsetzen wurde. Ein Mann rannte an uns vorbei, dicht gefolgt von einer ganzen Gruppe. Einige hatten blutige Gesichter, zwei junge Männer trugen eine reglose Frau zwischen sich; ich sah dunkle Flecke auf ihrer Brust.
    »Sie haben die Speere umgedreht!«, schrie einer von ihnen. »Sie bringen alle um!«
    Aus den kleinen Gruppen wurde ein Strom, der sich in die Gasse ergoss. Das Tier floh.
    »Hier rein!«, rief ich und zog Jacob in eine Nische zwischen zwei Häusern. Richard folgte uns. Wir drückten uns gegen den Stein und sahen, wie die Menschen an uns vorbeiliefen. Hinter ihnen hörte ich das Klirren von Metall und ein dumpfes, rhythmisches Trommeln. Die Soldaten schlugen mit den Speeren gegen ihre Schilde, trieben die Menge vor sich her.
    Ein älterer Mann brach zusammen, niedergestreckt von Hitze und Anstrengung. Ein Soldat rammte ihm den Speer in die Brust, ohne hinzusehen.
    Wir drückten uns so tief in die Nische, wie wir konnten.
    Es begann zu regnen. Schwere Tropfen klatschten vor mir in den Staub. Irgendwo schlug ein Blitz mit lautem Knall ein.
    Mein Umhang wurde immer schwerer. Ich machte mir Sorgen um Jacob, der noch längst nicht all seine Kräfte zurückerlangt hatte.
    Schließlich warf Richard einen vorsichtigen Blick aus der Nische. »Alle weg«, sagte er. »Kommt – bevor die Soldaten zum Rathaus zurückkehren.«
    Wir verließen unser Versteck. Ich drehte den Kopf, als wir losgingen, sah noch einmal zurück zum Platz und

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