Die Nonne und der Tod
abgesprungen und versuchten ihre Tiere inmitten des Geschreis zu beruhigen. Wir liefen an ihnen vorbei und mussten einmal sogar über die Deichsel eines quer stehenden Ochsenkarrens klettern.
Richard führte uns nicht zum Tor, sondern zu einer steinernen Treppe, die an der Mauer emporführte. Die wenigen Soldaten, die nicht ohnehin nach unten auf das Chaos starrten, wandten den Blick ganz bewusst von uns ab.
Auf dem Wehrgang bogen wir nach links und liefen auf das Tor zu. Der Soldat, der dort stand, nickte und deutete auf eine Lücke zwischen den Steinen an der Seitenwand des Tors. Vermutlich diente sie dazu, angreifende Feinde mit kochendem Wasser oder Pech zu überschütten.
»Maria, gib mir den Sack!«, sagte Richard. Der Soldat sah sich immer wieder um, wollte wohl sicherstellen, dass uns niemand bemerkte.
»Das geht nicht gut aus«, sagte er. Ich wusste nicht, ob er den Tumult vor dem Tor meinte oder unsere Flucht.
Die Lücke im Gestein führte schräg nach unten. Eine Strickleiter, die an zwei Eisenringen befestigt war, führte hinab. Richard warf Marias Sack nach unten. »Du zuerst, Ketlin.«
Ich nickte. Hinter mir erstarb das Wiehern. Unwillkürlich drehte ich mich um. Das Pferd stand mit zitternden Flanken da, Blut tropfte von seinem Körper, sein Kopf war gesenkt, und ich glaube, dass es die Augen geschlossen hatte.
Als sich ein Soldat aus der Menge löste und mit erhobenem Speer auf das Pferd zuging, wandte ich mich ab.
»Ketlin«, wiederholte Richard ungeduldig.
Ich kletterte in das Loch hinein.
Ich hatte ganz vergessen, wie still eine Nacht sein kann. Da war nur das Rauschen des Flusses und das Zirpen der Grillen, kein Schnarchen, keine Glocke, kein Lallen betrunkener Schmuggler, die spätnachts aus der Taverne kamen. Im hellen Vollmondlicht gingen wir den Weg zu einer Anlegestelle, die Richard kannte.
»Dort treffen wir uns immer zum Warenaustausch«, hatte er gesagt. »Auch die Schiffe nach Bonn legen dort an.«
Seit wir die Stadt verlassen hatten, war Maria ruhiger geworden. Sie hielt sich nicht mehr an mir fest, sondern ging mit festen Schritten. Hinter einem Gebüsch hatte sie ihre Nonnentracht gegen die normale Kleidung getauscht, die sie in dem Sack mitgenommen hatte. Ich hatte Richards Blick bemerkt, als er sie zum ersten Mal ohne Tracht sah. Maria war eine hübsche Frau, und offenbar war ihm das aufgefallen.
»Wie weit ist es noch?«, fragte ich nach einer Weile.
»Nicht mehr weit. Hinter der nächsten Biegung.«
Der Weg war so schmal, dass wir nur zu zweit nebeneinander hergehen konnten, was Maria und ich auch taten. Richard ging voran.
Allmählich kehrte Ruhe in meine Gedanken ein. Das Rauschen des Flusses lullte mich ein, und einige Male kam es mir fast so vor, als wäre die Stadt nur ein Traum gewesen, aus dem ich erwacht war. Die Seuche und alles, was mit ihr zu tun hatte, schien so weit weg wie die Sterne.
»Ich vermisse die Glocken«, sagte Maria unvermittelt.
Ich nicht, dachte ich, ohne es auszusprechen.
»Sie sind die Eckpfeiler meines Tages.« Marias Blick war nach vorn gerichtet, auf Richards Rücken, und so war ich mir nicht sicher, ob sie mit mir sprach. »Sie sagen mir, wann ich aufzustehen habe und was zu tun ist. Ich weiß nicht, ob ich ohne sie wüsste, was ich mit dem Tag anfangen soll. Es wäre verwirrend.«
Sie schien auf eine Antwort zu warten, aber mir fiel keine ein. Ich hatte die Glocken gehasst, vom ersten Tag bis zum letzten hatten sie mich herumkommandiert und bevormundet.
»In deinem neuen Kloster wird es auch eine geben«, sagte ich schließlich.
Richard blieb so plötzlich stehen, dass ich beinahe gegen ihn gelaufen wäre.
»An der Anlegestelle brennt ein Feuer«, sagte er. »Bleibt hier, ich sehe mal nach.«
Erst als er sich duckte und ins hohe Gras schlich, das auf beiden Seiten des Wegs wuchs, sah ich den gelben Schein. Er erhellte einen hölzernen Pier, der in den Fluss hineinragte. Als mein Blick zu Richard zurückkehren wollte, war er bereits verschwunden.
»Das sind bestimmt nur Reisende wie wir«, sagte Maria. Es klang, als wollte sie sich selbst beruhigen, aber sie beruhigte auch mich ein wenig. Trotzdem wurde mein Mund trocken, als ich einen Schatten neben dem Feuer auftauchen sah, doch dann winkte der Schatten und rief: »Alles in Ordnung. Kommt.«
Es war Richard.
Und nicht nur er. Als wir näher kamen, sah ich, dass Czyne, Paul und Eckehart am Feuer saßen.
»Unser Kurier ist nicht gekommen«, sagte Czyne. »Wir warten noch
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