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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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ein Wort bekam ich von den Psalmen mit, und immer wieder vergaß ich die Strophen der Hymnen. Ich dachte an Jacob, rief mir das Gespräch in Erinnerung, das wir geführt hatten, wiederholte im Stillen jeden einzelnen Satz, den er gesagt hatte, und meine Antworten darauf. Ich war so aufgeregt, dass ich nach dem Abendbrot nicht mehr sagen konnte, was ich gegessen hatte, und in der Nacht wach unter meiner Decke lag.
    Das liegt nur daran, dass ich schon so lange mit keinem Mann mehr gesprochen habe , versuchte ich mich zu beruhigen. Es wird sich legen, wenn wir öfter zusammen sind.
    Ich dachte und glaubte es.
    Bis zum nächsten Gebet wachte ich ein halbes Dutzend Mal auf, bis zum Gottesdienst noch mal so oft. Obwohl unser Gespräch nicht lange gedauert hatte, schien mich alles, was ich sah oder hörte, daran zu erinnern.
    Am Morgen las uns Mutter Immaculata einen Absatz über Keuschheit vor. Als wir das Refektorium betraten, saß Benedikta dort.
    Ihr Gesicht war angeschwollen und blau. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und hielt den Kopf gesenkt, während die Konversinnen das Frühstück auftrugen. Wir alle blieben an der Tür stehen, unsicher, was als Nächstes geschehen würde.
    »Geht rein und setzt euch«, sagte Maria. Und nach einer kurzen Pause: »Alles ist so wie sonst auch. Nichts hat sich geändert.«
    Doch das hatte es. Nicht nur Benediktas Gesicht war anders, auch die Sitzordnung. Benedikta saß ganz am Ende eines kleinen Tischs, der sonst Besuchern vorbehalten war. Die Novizinnen gingen an ihr vorbei zu ihrem großen und taten so, als wäre sie nicht da. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich fühlte.
    Unsicher blieb ich stehen und bemerkte die Blicke, die Mutter Immaculata abwechselnd mir und Benedikta zuwarf.
    »Setz dich, Ketlin«, sagte Maria hinter mir.
    Ich drehte mich zu ihr um. »Ich würde mich gern neben Benedikta setzen.«
    Kein Zögern, so als hätte sie geahnt, dass ich das sagen würde. »Dann tu es.«
    Meine Schritte hallten durch das stille Refektorium, dann rutschte ich in die Holzbank und blieb neben Benedikta sitzen. Der Geruch nach Schweiß und Erbrochenem hüllte sie ein, aber sie lächelte und streckte die Hand aus, um meine zu berühren. Ihre Haut war kalt und klamm.
    Wir beteten und begannen zu essen.
    »Wie geht es dir?«, flüsterte ich zwischen zwei Löffeln dünner Gemüsesuppe.
    Benedikta beugte sich tief über die Holzschüssel. Der Löffel, den sie in einer Hand hielt, zitterte bei jeder Bewegung. »Der Herr ist gnädiger zu mir, als ich es verdient habe«, flüsterte sie zurück. »Danke ihm auch im Namen der Nonnen, die ihm Unrecht tun wollten. Es ist ihnen nicht gelungen.«
    Ich sah mich verstohlen um, aber niemand schien unsere Unterhaltung zu bemerken. Wir saßen abseits von den anderen, und wenn ich den Kopf zur Seite drehte, konnte man meine Lippenbewegungen vom Podest aus nicht sehen.
    »Heißt das, du hast den Trank nicht genommen?«, fragte ich leise.
    »Ich habe ihn genommen. Sie haben meinen Kopf zwischen ihre Knie gepresst und mir die Nase zugehalten, bis ich nicht mehr anders konnte, als ihn zu schlucken.« Verachtung hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Ich hätte nie geglaubt, Benedikta einmal so reden zu hören.
    Ich aß einen Löffel Suppe. »Hast du geblutet?«
    »Nein.«
    »Nein?« Überrascht sah ich sie an. »Dann warst du nicht …?«
    Das Wort schwanger kam mir nicht über die Lippen.
    »Ich bin es noch.«
    Zum ersten Mal, seit ich mich an den Tisch gesetzt hatte, wandte mir Benedikta ihr Gesicht zu. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah das Feuer, das in ihren blutunterlaufenen Augen brannte.
    »Sie konnten es nicht töten«, flüsterte sie. »Es ist immer noch in mir. Ich spüre es bei jedem Atemzug.«
    » Was ist in dir?« Ich stellte die Frage, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.
    Benediktas Hand verkrampfte sich um den Löffel, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Das Kind Gottes. Der Messias.«
    Ich lehnte mich zurück, verspürte auf einmal keinen Hunger mehr. Benedikta achtete nicht auf mich, sprach nur leise weiter, als wäre es ihr egal, ob jemand zuhörte.
    »So lange schon habe ich den Herrn nach meiner Berufung gefragt, immer hat er geschwiegen. Als du zu den Konversinnen gingst, habe ich Nächte in der Kapelle verbracht, habe gebetet, bis mir die Stimme versagte und mein Kopf leer war. Nichts.«
    Suppe lief ihr übers Kinn und tropfte zurück in die Schüssel. Geistesabwesend wischte sich Benedikta mit dem Ärmel über

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