Die Nonne und die Hure
ist dieser Löwe hier aufgerichtet worden. Senkt dankbar das Haupt und gedenkt der Leiden, die dieser Märtyrer erdulden musste. Als Bischof von Alexandria wurde er im Jahr 68 von Christenfeinden in seiner Kirche ergriffen und an einem Seil zu Tode geschleift. Im 14. Jahrhundert gelangten seine Gebeine in einer feierlichen Prozession über das Meer in unsere Stadt. Er ist unser Schutzheiliger, er zeugt von unserer Macht und der unverrückbaren Stärke der Kirche.«
»Amen«, murmelten die Anwesenden. Der Klang der Orgel ertönte brausend, die Chornonnen sangen ein Kirchenlied, und die Anwesenden traten einer nach dem anderen vor, um die Hostie in Empfang zu nehmen.
»Gleich wird der Gottesdienst vorbei sein«, flüsterte Christoph Celina zu. »Lass uns verschwinden.«
»Wohin?«, fragte sie genauso leise.
»Wir müssen zu Nannas Zelle. Über den Kreuzgang da drüben hinter der anderen Tür.«
»Wie sollen wir dort unbemerkt hinüberkommen?«
»Wir drücken uns ganz langsam an der Wand entlang.«
»Und die Fackeln?«
»Die beleuchten die Wände darüber; unter ihnen wird man uns nicht so leicht bemerken.«
Christoph begann, sich langsam an der Wand in Richtung Tür voranzuschieben. Celina spürte den kalten Stein in ihrem Rücken. Sie senkte den Kopf, um nicht doch gesehen zu werden. Die Nonnen, Mönche und der seltsame Priester fuhren fort, ihren Gottesdienst abzuhalten. Aller Augen waren nach vorn gerichtet, zu dem Löwen. Celina musste an sich halten, nicht ebenfalls dorthin zu blicken,denn es ging eine Faszination von ihm aus, die nicht nur auf seine goldene Farbe zurückzuführen war. Endlich hatten sie die Tür erreicht. Celina warf einen kurzen Seitenblick zum Altar und dachte mit stockendem Herzen: Jetzt schaut er gleich zu mir hin, und dann ist alles verloren. Im nächsten Moment wandte der Priester den Kopf zu ihr, als hätte er etwas gehört. Sie versuchte sich so klein zu machen, wie es ging. Einen Augenblick später blickte er in eine andere Richtung. Noch ein paar Schritte, und sie waren draußen. Im Kreuzgang war es dunkel und kalt. Christoph führte Celina zu einem massiven Gebäude.
»Das ist das Dormitorium«, raunte er. »Ich habe mir seine Lage und auch den Standort von Nannas Zelle genau eingeprägt.«
Die Tür zum Dormitorium stand offen. Der Gang mit den Türen zu den Schlafzellen war leer. Wahrscheinlich waren alle Bewohner des Klosters in der Kirche.
»Hier ist es«, sagte Christoph. Auch Nannas Zelle stand offen. Offensichtlich fürchtete man sich nicht vor Eindringlingen. Christoph nahm eines der Talglichter, die im Gang brannten. Die Zellentür knarrte ein wenig. Die Zelle war wie üblich eingerichtet, mit Strohsack, Stuhl, einer kleinen Truhe und dem Kruzifix an der getünchten Wand. Celina setzte sich auf den Stuhl, Christoph blieb am vergitterten Fenster stehen. Sie warteten etwa eine halbe Stunde. Endlich ertönte die Glocke der Kirche, die das Ende des Gottesdienstes verkündete. Kurze Zeit später hörte Celina das Rascheln vieler Füße; das waren die Nonnen, die in ihre Zellen zurückkehrten. Keine der Frauen sprach ein Wort. Die Tür öffnete sich, Nanna stand im Eingang. Sie riss die Augen in ihrem schmaler gewordenen Gesicht weit auf, schlug sich eine Hand vor den Mund und drehte sich um, als wolle sie fliehen. Mit einem Satz war Christoph bei ihr, packte sie mit der einen Hand und hieltihr mit der anderen den Mund zu. Er führte sie zu dem Stuhl, von dem Celina sich erhoben hatte, und drückte sie darauf nieder.
»Was wollt ihr von mir?«, stieß Nanna hervor. Ihr Gesicht war bleich und mit blauen Flecken übersät.
»Wir wollen wissen, was wirklich hinter diesen Todesfällen steckt«, sagte Celina.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Von den drei Nonnen, die gefunden wurden. Du bist doch erst kürzlich bei mir gewesen und hast mit mir darüber gesprochen.«
»Das musst du geträumt haben«, sagte Nanna. Sie wirkte zugleich verschlagen und unterwürfig.
Was hatte sie da gesagt? Celina sollte sich alles nur eingebildet haben?
»Du warst bei dem Auffinden der ersten Toten dabei, ich habe es genau gesehen. Wir haben doch miteinander gesprochen«, fuhr Celina sie an.
»Ich habe dich zuletzt während des Karnevals gesehen, als du mit deinem Onkel und deiner Tante bei der Rialtobrücke warst. Alles andere hast du dir nur eingebildet.«
Celina wurde wütend. »Wir haben Zeugen. Wir können alles beweisen!«
»Wem denn?« Nannas Gesichtsausdruck war nun
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