Die Nymphe Eva
Pistolenheld hatte sich in den letzten drei Wochen nicht
verändert: Er war nach wie vor auffallend angezogen, trug einen anderen
Zweihundertdollaranzug, der seine massigen Schultern und seine muskulöse
Gestalt betonte. Sein Gesicht hatte die Sonnenbräune eingebüßt, aber das
permanente verächtliche Grinsen beibehalten. Das kurze schwarze Haar war
ordentlich gebürstet — ein Mörder, der mehr wie ein Student wirkte, der die Abschlußprüfung hinter sich gebracht hat und noch einmal
seine Alma mater besucht. Sein linker Arm lag in
einer Schlinge, und ich erkundigte mich bei Levine danach.
»Ihr
Schuß hat einen kleinen Knochen in seiner Schulter zerschmettert«, sagte er
gleichgültig. »Ich habe erst gestern Doktor Murphy danach gefragt, und die
Schlinge ist kein Schwindel.« Er leistete sich den Luxus eines schwachen
Lächelns. »Wenn Sie das nächstemal auf einen
Verdächtigen schießen, tun Sie mir den Gefallen und jagen Sie die Kugel in eine
Stelle, wo hinterher nichts zu sehen ist und die Jury nicht auch noch unter
Umständen dadurch beeinflußt werden kann!«
Es
war heiß und stickig im Gerichtssaal, und ich fühlte mich plötzlich beunruhigt.
Neben mir studierte Levine seine Notizen, ohne auf mich zu achten, und am
anderen Tisch drüben unterhielten sich Lucas und Cranston ernsthaft mit leiser Stimme, die Köpfe nah beisammen. Nach einer, wie mir
schien, unendlichen Wartezeit, wurde im Gerichtssaal zur Ruhe gemahnt, und
Richter Kleban trat ein.
Levines
Eröffnungsansprache an die Jury war ruhig, logisch und präzise. Er war
anscheinend davon überzeugt, daß sich das überwältigende Gewicht an
Beweismaterial auf seiner Seite befand — und daß die zwölf Geschworenen dies
auch erkennen würden. Er erweckte den Eindruck, als handle es sich beim Rest
des Prozesses lediglich um eine notwendige juristische Formalität, und es war
offensichtlich, daß einige der Geschworenen, die geduldig auf ihren Stühlen
saßen, mit ihm darin übereinstimmten.
Cranstons Eröffnungsansprache war noch kürzer, aber er
hielt sie im Ton eines Richters, der die Jury ermahnt, Augen und Ohren
offenzuhalten, sich daran zu erinnern, daß weder durch die Anklage noch durch
Mr. Levine das geringste bewiesen worden sei und sich der Verpflichtung bewußt
zu sein, nicht zu vergessen, was auf dem Spiel stehe: nämlich das Leben eines
Mannes. Er ließ durchblicken, daß sich im vorliegenden Fall eine neue
Entwicklung anbahne, und beglückwünschte die Geschworenen zu ihrem klaren
Denken, ihrer Wachsamkeit und ihrer guten Urteilsfähigkeit, die sie seiner
Überzeugung nach beweisen würden. Die entspannt
dasitzenden Geschworenen strafften ihre Rücken und sahen wachsam drein.
Eine
der weiblichen Geschworenen faszinierte mich auf eine abstoßende Weise. Sie war
eine plumpe ältere Frau, die mit Sicherheit die örtliche Schulpflegschaft, den
Bridgeklub, ihren Ehemann und alles sonstige in ihrer Reichweite Befindliche
tyrannisierte. Ohne ersichtlichen Grund war ich zutiefst überzeugt, daß sie unvermeidlicherweise entscheidenden Einfluß auf die übrigen
Geschworenen haben würde und daß der Staats- oder Rechtsanwalt, der sie auf
seine Seite brächte, sich das von ihm gewünschte Urteil sichern könnte.
Doc
Murphy wurde als erster Zeuge aufgerufen und sagte in seiner gewohnten
höflichen, durch seine Umgebung offensichtlich unbeeindruckten Weise über Ort,
Zeit und Umstände von Sam Fletchers Tod aus.
»Der
Verstorbene wurde zweimal in den Hinterkopf geschossen«, wiederholte Levine
laut die Worte des Doktors. »Und die Pulververbrennungen um die Wunden
bewiesen, daß aus nächster Nähe geschossen wurde — von hinten?«
»Ganz
recht«, bestätigte Murphy eifrig.
Der
Stellvertretende Staatsanwalt wandte sich höflich an Cranston .
»Ihr Zeuge.«
»Keine
Fragen«, sagte der berühmte Verteidiger gelassen.
Danach
wurde die Verhandlung bis nach der Mittagspause vertagt; es war nahe an zwölf
Uhr, und der Richter war hungrig. Als die Verhandlung um vierzehn Uhr wieder
aufgenommen wurde, rief Levine Polnik in den
Zeugenstand.
Polnik sagte mit seiner üblichen rauhen Stimme aus, daß er am Morgen des Mordtages dem Angeklagten, dem Verstorbenen
und einem Mann namens Mandel pflichtgemäß gefolgt sei und daß er sowohl den
Angeklagten als auch den Verstorbenen an einer Kreuzung mit Rotlicht aus den
Augen verloren habe.
»Um wieviel Uhr war das?« fragte Levine.
Polnik blätterte sorgfältig mit dem Daumen in seinem
Notizbuch und
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