Die Obelisken von Hegira
umstürzen lassen. Die Schlangensäule lag nun zu ihren Füßen, halb begraben in Schlamm und Astwerk. Rings um das Tal, auf der gefallenen Säule, auf dem Sockel Dats und sogar auf dem Grat der Klippe zwanzig oder dreißig Meter darüber saßen wenigstens zehntausend Menschen in völligem Schweigen. Mit weit geöffneten, klaren Augen starrten sie auf das Gesicht der Göttin, die Hände im Schoß gefaltet. Der winzige König und seine Königin saßen mitten unter ihnen, Weihrauchträger nahebei.
Bar-Woten begriff. Er ließ sich auf einem freien Felsen nieder und bedeutete den anderen, seinem Beispiel zu folgen. Gemeinsam starrten sie auf Dat und dachten ihre eigenen Gedanken.
Sie hatten alle Glück gehabt, daß sie noch lebten.
Kirils Brustkorb war fest mit Bandagen umwickelt, und es bereitete ihm Schmerzen zu atmen. Um die Schultern hatte er ein spaßiges, ausgerenktes Gefühl, und er konnte nicht für sehr lange beide Augen zugleich auf ein einzelnes Objekt ausrichten. Vage, verschwommene Formen bewegten sich rings um ihn in der Dunkelheit.
Ich bin im Krankenrevier, sagte er zu sich selbst. Etwas ist mir zugestoßen. Vielleicht bin ich eine Treppe hinuntergefallen. Ausgerutscht.
An die Flutwellen erinnerte er sich nicht mehr.
Lange Zeit über – es schienen Monate zu sein – träumte er verwischte Träume, in denen er mit den Ballons in Mediwewa aufstieg, die Obeliskentexte las, Elena kennenlernte und ihr näher kam und sie liebte, Nachmittage im Park längs der Promenade in der Ortschaft Gidalha verbrachte, wo die Vögel sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit sangen und die Luft nach Jasminblüten duftete von den Räucherbecken, die ihre schönsten Feriendüfte ausströmten.
Gelegentlich sprach er mit dem Doktor und mit seiner Pflegerin, aber es gab Unmengen kleinerer Verletzungen und Fälle zu behandeln, die viel ernster waren als sein eigener. Bar-Woten und Kiril waren beide auf der Insel, also verbrachte er den größten Teil seiner Zeit allein.
Tag und Nacht drang der Lärm von Nieten und Hämmern und Sägen an sein Ohr. Langsam erinnerte er sich, was geschehen war.
Zufällig bekam er mit, daß ein Drittel der Bevölkerung Golumbines, siebzehntausend Menschen, in den Wellen den Tod gefunden hatten. Die meisten der einheimischen Boote waren auf See vollgeschlagen oder an Land zerschmettert worden. Zwanzig Mannschaftsangehörige der Dreizack waren schwer verwundet worden, und drei waren tot.
Er schlief. Zwei Wochen lang führte er eine von allem losgelöste Existenz.
Schließlich kam der Tag, an dem ihm gestattet wurde, alleine zu gehen und sich an Deck zu begeben. Er blickte nach Norden. Dort war es immer noch grau, aber der Süden war hell und warm und einladend. Die Insel wirkte zerzaust, doch zugleich auch geschäftig und ernsthaft auf ihre Gesundung bedacht. Leute setzten die Docks und den Quai instand. In einem endlosen Strom schleppten lange Reihen von ihnen Kübel mit Ziegeln und Mörtel hierhin und dorthin. Steinmetze setzten Steine und verfugten sie. Nachts arbeiteten sie bei Fackelschein.
Der Geruch des Todes war beinahe verschwunden. Boote kreuzten immer noch im Hafen, fischten mit Schleppnetzen nach Leichen und brachten sie hinaus auf hohe See zum Tiefwasserbegräbnis. Der Großteil des Strandguts war geborgen worden, um Verwendung beim Bootsneubau zu finden. Nur ein paar wenige treibende Baumstämme stellten noch eine Gefahr für die Schiffahrt dar. Das Wasser war wieder von einem durchsichtigen Blaugrün.
Das Wetter hatte sich verändert. Die aus dem Norden wehenden Winde waren kälter, und jedermann auf der Dreizack wußte, das bedeutete nur eines. Der Obelisk, der sich einst hoch über Weggismarche und Pallasta und die anderen Länder unter den Bleichen Meeren erhoben hatte, war nicht mehr. Was das dem Herkunftsland der Dreizack angetan hatte, vermochte niemand zu sagen – aber zuversichtlich waren sie nicht.
Allein der Gedanke, daß ein Obelisk fallen konnte, war erschütternd. Hinzugenommen zu der besternten Nacht von vor neun Monaten, bedeutete es, daß fürderhin nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. Aber wie viele weitere Schicksalsschläge mochten sie noch treffen?
Kiril hatte seit zweieinhalb Jahren – seit der Verwandlung Elenas – gewußt, daß die Welt aus den Fugen geraten war. Das hier waren nicht die Anfänge, sondern eine Eskalation.
Die Dreizack benötigte eine Überholung, die wenigstens zwei Monate in Anspruch nehmen würde. In dieser Zeit
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