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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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beschlich.
    Er muss fort aus diesem Zimmer. Aber wohin? Es gibt nur eine andere Möglichkeit: Mutters Schlafzimmer. Aber wie soll er dort schlafen können? Schon wenn er es betritt, fürchtet er sich vor dem Anblick ihrer Leiche, und auch wenn sein klarer Verstand ihm sagt, dass sie auf dem Hollenflether Friedhof in ihrem Kiefernholzsarg liegt, den das Sozialamt schließlich bezahlt hat. Er sieht sie wie damals: seltsam verkrümmt im Schatten zwischen Bett und Heizkörper, die nackten blau geäderten Unterschenkel, bleich die pergamentene Haut, den süßlichen Leichengeruch ausströmend, die Fliege, die aus dem Krater des zahnlosen Mundes kroch.
    Aber man muss sich entscheiden. Vielleicht wird er Mutters Schlafzimmer nutzen können, wenn er es umräumt. Kurbjuweit sammelt sich, stößt die Tür auf. Links sieht er im Halbdunkel hinter der geschlossenen Jalousie das mit Dosen verstapelte Fenster, unter dem Mutter gelegen hat.
    Es ist zu dunkel, um unter das Bett zu sehen, dessen Konstruktion zu prüfen. Kurbjuweit erhebt sich wieder, hält sich an der Türfüllung fest, schaltet das Licht ein. Er ist erleichtert. Der grelle Schein der Deckenlampe hat den Schatten zu hellem Braun zerschmolzen. Mutter ist fort, das kann er sehen. Seit fast einem Jahr ist sie fort und er muss allein durchs Leben kommen.
    Kurbjuweit versucht, sich das Gesicht des Vaters vorzustellen, und freut sich, dass es ihm nicht mehr gelingt. Nur seine Stimme hört er: Du Missgeburt, ich bereue es, dich gezeugt zu haben, wir wollten dich wegmachen, aber unter Adolf ging das ja nicht, und dann hat der Krieg zu lange gedauert. Vater war jähzornig, und je älter, desto lauter wurde er, hat sich aufgeregt bei jeder Kleinigkeit, herumgeschrien, bis ihn der Schlag endlich zum Schweigen zwang. Zwei Jahre lag er stumm und starrte mit seinem silbrigmilchigen Blick; zwei Monate in der Wohnung und dann im Altenheim, wohin sie ihn schafften, nachdem Kurbjuweits morscher Rücken den Alten nicht mehr aus dem Rollstuhl hochbrachte. Jeden Tag ging Mutter hin, niemand sollte ihr nachsagen können, sie lasse ihren Mann allein. Als sie feststellte, dass auch die anderen Frauen ihre Männer nicht jeden Tag besuchten, fand sie Vorwände und Ausreden, nur noch jeden zweiten Tag zu ihm zu gehen, doch auch das franste aus, denn schließlich hat man Verpflichtungen, muss einkaufen, sauber machen, für den Sohn sorgen. Die Gesundheit ließ nach und wer weiß, Vater bekam wohl doch nichts mehr mit, und wozu dann noch. Das letzte Jahr ging sie nur noch einmal in der Woche, am Sonntagnachmittag, denn erstens gehörte sich das so und zweitens besuchten zu diesen Stunden auch die anderen Alten ihre Angehörigen, man traf sich in der Sitzecke im Flur, trank den mitgebrachten Kaffee und konnte Neuigkeiten hören, während der Fröscheesser mit dem Silberblick zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß und schwieg.
    Kurbjuweit ist nur in der ersten Zeit ein paarmal mitgegangen und hat sich fortan geweigert. Schließlich arbeitete er damals im Reifenlager und an den Wochenenden war er bei Anita. »Er kennt mich ja doch nicht mehr«, hat er sich vor Mutter gerechtfertigt.
    Gegenüber an der Wand der Kleiderschrank, den würde er stehen lassen. Aber Vaters Betthälfte muss fort, vor allem die Matratze, neben dieser Betthälfte wird er nicht schlafen können, der Tote würde in den Träumen auferstehen, seinem Sohn Vorhaltungen machen. Ob er es nach drüben bringen kann? Kurbjuweit bückt sich, stützt sich an der Bettkante ab, und obwohl er sich nur langsam auf die Knie sinken lässt, wird ihm schwarz vor Augen, er spürt den schweren Schwall seines Blutes und sein Bewusstsein sinkt auf den modrigen Grund seiner Seele.
    Kurbjuweit schwitzt. Er hat Durst. Er hat viel Durst in der letzten Zeit. Woran mag das liegen? Daran, dass er nicht mehr so viel Milch trinkt? Oder dieses Fleisch gegessen hat? Oder daran, dass er immer so stark schwitzt? Seit wann schwitzt er so stark? Dinge treten in dein Leben, du bemerkst sie nicht, und nach einiger Zeit stellst du fest, sie sind Bestandteil deines Lebens wie die zerschlissene Sitzgruppe im Wohnzimmer.
    Während Kurbjuweit leise, die Zehen zuerst aufsetzend, zurück in das Wohnzimmer, in den Flur und von dort in die Küche schleicht, überlegt er, seit wann es ihm zur Gewohnheit geworden ist, den großen Bierkrug, den Vater vor Jahren als Pokal vom Schützenfest mitgebracht hat, aus dem Schrank über der Spüle zu nehmen, ihn unter dem Wasserhahn

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