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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Man lag nicht geknebelt unter Deck, im dunklen Laderaum, nein, man stand auf der Brücke, hielt das Ruder und bestimmte den Kurs durch die Stürme und Strömungen des Schicksals, das Gesicht in der frischen Brise, den Blick am Horizont. Grübelei verdirbt die Moral, man muss Beschlüsse fassen und sie durchführen, das gibt Selbstbewusstsein.
    Jeden Tag macht Kurbjuweit Schießtraining. Er schießt auf die Plastiktüten, die in den Büschen auf dem Brachgelände hinter dem Haus hängen und bunt heraufleuchten, oder auf einen markanten Ast. Und vorher reinigt er die Pistole. Ein zufriedenes Lächeln glänzt auf Kurbjuweits Gesicht, während er seine Red Nine bedächtig zerlegt, die Teile auf ein ausrangiertes Unterhemd vor sich auf dem Tisch platziert, jedes einzeln zärtlich putzt, obwohl es schon lange nichts mehr zu putzen gibt, sie wieder zusammensetzt. Wie man ein Baby auszieht, ihm die schmutzige Windel wechselt, es eincremt, wieder anzieht. Er spricht mit seinem Baby, Red Nine nennt er es nur; »Red Nine«, murmelt er zärtlich, streichelt den Verschluss und zieht ihn ab. »Red Nine«, ein wunderbares Baby ist das, eine wunderbare Pistole, eine bewährte Pistole, eine millionenfach eingesetzte Pistole, diese Mauser C 96 mit der Neun, die in die Griffschale eingefräst und mit roter Farbe ausgelegt ist, eine schöne Pistole, mit ihren achthundert Gramm schmiegt sie sich ruhig, kühl und zuverlässig in die Hand. Rot ist der Tod, rot ist die Liebe, das passt. Kurbjuweit fährt mit dem Zeigefinger die rote Neun nach. Ein Mann muss verwachsen mit seiner Waffe, eins werden mit ihr, nicht umsonst lehrte das Militär den blinden Umgang mit der Waffe, bis man sie im Dunkeln zerlegen und wieder zusammensetzen konnte. Im Dunkeln! Das will er als Nächstes trainieren, sich ein neues Ziel setzen, perfekt werden, unangreifbar. Im Fahrradladen hat er sich feinstes Öl besorgt, er ist selbst hingegangen, dafür hat er Kevin nicht gebraucht, sogar das hat er geschafft!
    Das Schießtraining gibt dem Tag Struktur, es zwingt zum rechtzeitigen Aufstehen, damit man die Übungszeiten am Vormittag zwischen zehn und elf einhält, und jedes Mal, wenn Kurbjuweit es geschafft hat, ist er ein wenig stolz auf sich, mit jedem Tag mehr, die gelungenen Trainingstage stehen wie Ehrentafeln hinter ihm, sie stehen in Reih und Glied wie die Pokale im Wohnzimmerschrank, sie glänzen und beleuchten sein Leben. Er liegt nicht mehr bis in den späten Vormittag im Bett und versucht, sich fortzuträumen mit einem Lottogewinn und den Frauen mit dickem Hintern. Zwar ist nie ein Ende mit dem Geschurre und Gescharre über ihm, doch hält er es aus, denn er ist gewappnet, er kann sich verteidigen im Notfall. Der hoffentlich nicht eintritt. Es ist wie damals, 1964, als er seinen Wehrdienst abgeleistet hat. Man schoss auf Pappkameraden, aber nicht, weil man zum Mörder werden wollte – niemand will ein Mörder sein, im Gegenteil, jeder anständige Mensch ist doch friedlich gesinnt –, sondern damit man seine Familie und sich selbst verteidigen konnte, man trainierte für den Verteidigungsfall. Ja, man trainierte das Töten für den Frieden, so ist das.
    Kurbjuweit fühlt sich so fit wie damals als aktiver Schütze im Verein. Sie haben sich jede Woche in der Schützenhalle getroffen, abends nach der Arbeit, als er noch als Betonwerker bei Steffens gearbeitet hat, diesem Verbrecher. Mit vier Mannschaften zu je fünf Leuten haben sie Luftgewehrschießen trainiert für die Meisterschaften im Winter zwischen November und Februar, Spiegelschießen aus zehn Meter Distanz. Ein Bier und zwei Korn, und dann ran an den Stand, zwanzig Schuss in maximal fünfunddreißig Minuten. Er war ein guter Schütze.
    Man brauchte eine ruhige Hand. Und dafür einen ruhigen Puls. Und dafür einen ruhigen Atem. Man musste den Atem unter Kontrolle bringen. Tief einatmen, langsam ausatmen, mit dem Atem alle schlechten Gedanken ausströmen lassen, immer langsamer werden. Dann das Gewehr anlegen. Übertrug sich der Puls in der Brust noch durch Hemd, Pullover, Jacke auf den Kolben, dann pulste auch das Gewehr, das Korn schwankte hinter der Kimme auf und nieder, unmöglich zu treffen. Atem anhalten, zuerst die Vertikale einpendeln bis auf die schwarze Zehn, dann die Horizontale. Und Schuss!
    Die Spiegel, wie man die Scheiben nannte, waren nicht größer als ein Kreis zwischen Daumen und Zeigefinger, hatten neun Ringe und einen schwarzen Punkt in der Mitte, das war die Zehn, zehn Spiegel je

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