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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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habe sich übrigens nicht gebessert, im Gegenteil, sie sei umso düsterer geworden, je näher die Entlassung kam. Henry mache sich große Sorgen um seinen Vater, wegen der Rathjens-Geschichte.
    Würde Schlichtmann seine Drohungen wahr machen? Das gute alte Faustrecht war mächtiger als alle gelehrte Jurisprudenz, der Rechtsstaat mitsamt seiner Gewaltenteilung nur eine schöne, aber dünne und durchsichtige Haut, unter der das Magma der steinzeitlichen Triebe wütend weiterkochte und wie die Hekla auf Island von Zeit zu Zeit durchbrach, um das Land unter Glut und Asche zu begraben. Als Rechtsanwalt hatte man dann nichts mehr zu melden. Was rege ich mich auf über die Schattenseiten meines Berufes, jetzt, wo ich fast sechzig bin, dachte Schlüter. Man war eben nur Handwerker, sonst nichts.
    Her mit dem Brief. Er las:
     
    Hollenfleth, den 29. Januar 1999
     
    Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt,
    möchte Sie darüber informieren, dass die Hausverwaltung das kaputte Licht auf dem Laubengang vor meiner Wohnung immer noch nicht repariert hat, obwohl ich es dem Hausmeister schon mehrmals gesagt habe. Ich habe mich auch bei der Hausverwaltung beschwert, aber es ist natürlich nichts geschehen. Und oben aus der Polenwohnung kommt Tag und Nacht Lärm und im dritten Stock sind Zigeuner eingezogen, die auch dauernd Lärm machen. Das alles, um mich hier aus der Wohnung zu vertreiben. Bitte Sie, tätig zu werden, bevor ich selbst etwas unternehmen muss, was den Leuten nicht gefallen wird.
     
    Hochachtungsvoll
    Horst Kurbjuweit
     
    Was sollte Schlüter mit so einem Brief anfangen? Er konnte nicht allen Ernstes wegen einer Glühbirne einen Anwaltsbrief schreiben. Die Anwaltsschwemme und die damit gestiegene Konkurrenz reduzierte die Selbstachtung, man nahm sich auch kleinlichster Dinge mit niedrigsten Streitwerten noch an, bauschte sie auf, machte sie zu einem Weltenproblem. Doch irgendwann war die Grenze unterschritten. Irgendetwas musste es noch geben, um das die Leute sich selbst kümmern konnten. Merkwürdig, wie ein Mann, der bis vor kurzer Zeit noch selbst Ausländer gewesen war, auf Ausländer herabsehen konnte. Dass Kurbjuweit selbst ein Zugereister war, verriet der Name.
    Schlüter drehte das Papier in seinen weichen Händen. Bevor ich selbst etwas unternehmen muss, was den Leuten nicht gefallen wird … Was sollte das bedeuten? Wieder eine kryptische Formulierung, wie im ersten Gespräch, damals, als Kurbjuweit mit dem Kündigungsschreiben der Walther OHG ankam. Man sollte mit denen mal was machen. Konnten die Leute sich nicht klarer ausdrücken? Schlüters Blick fiel auf die Unfallakte Horeis gegen Hagenah, die immer noch auf dem Sorgenstapel lag. Zu allem Unglück hatte Horeis keine Rechtsschutzversicherung und musste auf eigenes Risiko klagen. Und er, Schlüter, traf die Entscheidung, seiner Empfehlung würde Horeis folgen. Diese verfluchte Verantwortung!
    Schlüter schob Kurbjuweits Brief hinten in die Lasche seiner Akte gegen die Walther OHG und beschloss, das Schreiben zu ignorieren. Sonst verzettelte er sich. Zuerst die Hauptsachen. Und wenn anschließend noch Zeit war, die Nebensachen. Horeis hatte ein Problem, Kurbjuweit nur ein eingebildetes.
    Schlüter zupfte die Fristenreiter von Kurbjuweits Akte und warf sie neben seinem Schreibtisch auf den Fußboden zu den andern, die er nachher mit ins Schreibzimmer nehmen würde, damit Angela sie ins Archiv zur Ablage brachte. Dort würden sie fünf Jahre liegen und dann vernichtet werden.
    Und dann klappte er die Horeis-Akte auf, legte sich den Jagusch zurecht und begann, eine Strategie zu entwerfen.

17. Kapitel
     
    In dem Horst Kurbjuweit gefährlich gute Laune hat
     
    Mittag. Kurbjuweit sitzt am Küchentisch. Es ist ein guter Tag, obwohl es in der Nacht viel geschurrt hat über ihm, so laut wie selten, und auch jetzt zerrt und knarrt es. Er starrt nicht vor sich hin, er faltet und reißt auch keine Zettel und beschreibt sie mit seinen Gedanken.
    Seit er die Pistole hat, ist der Küchentisch wieder sein Lieblingsplatz geworden. Er hat die verbogene Halterung des Spiegels gerade geklopft und ihn erneut am Fensterrahmen angebracht. Den damit verbundenen Lärm hat er in Kauf genommen. Schließlich soll man sich nicht verrückt machen lassen. Nur mit dem Spiegel kann er den Laubengang unter Kontrolle halten. Er ist umgezogen in Mutters Zimmer, seitdem schläft er besser. Sogar das Badezimmer benutzt er wieder. Er war wieder der Herr seines Lebens. Man duldete nicht nur.

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