Die Oder Ich
zwei Mal zu füllen und leer zu trinken, vormittags das erste Mal und noch einmal nachmittags. Und oft auch abends. Er versucht, aus dem Brei der einförmigen Zeit Erinnerung zu ziehen, stellt sich seine Gänge in die Küche vor, sieht sich wie einen Fremden vor der Spüle stehen, ein um das andere Mal, rückwärts durch Tage und Wochen. Einmal, während er trank, hat er im Spiegel beobachtet, wie die Nachbarin, die Thielpapesche, ihren Weihnachtsbaum auf den Laubengang schaffte, wo er drei Wochen liegen blieb, bevor ihn jemand hinabgeworfen hat, auf den Rasen vor dem Block. Also hat er im Januar mit Wassertrinken begonnen. Im Januar muss es gewesen sein, nicht lange, nachdem die Hexe ihr Neujahrskonzert gegeben hat. Kurbjuweit fröstelt, während er in gierigen Schlucken den Krug lehrt. Das Wasser ist kalt. Er füllt den Krug ein zweites Mal, mischt warmes Wasser dazu, trinkt es aus. Und während er gebeugt über der Spüle steht und das Wasser ihm von den Mundwinkeln tropft und wieder Schlieren vor seinen Augen tanzen, steigt die Angst in ihm auf: Was hat die Hexe mit ihm gemacht?
Er muss sein eigenes Schlafzimmer aufgeben und in Mutters Schlafzimmer umziehen.
Kurbjuweits Blick schwenkt hinüber zum Spiegel. Die Angst steigert sich zur Panik. Wenn er hinaussehen kann, können andere hineinsehen! Keuchend legt er die drei Schritte zum Fenster zurück und dreht den Spiegel aus seiner Verschraubung vom Fensterrahmen, drückt die auseinandergebogenen Lamellen der Jalousie zusammen und flüchtet aus der Küche ins Wohnzimmer. Dass er daran nie gedacht hat!
Als er in Mutters Schlafzimmer zurückkehrt, erkennt er, dass das Doppelbett kein Doppelbett ist, sondern zwei zusammengestellte Betten aus dunkel gebeizter Eiche. Das hatte der Tischler angefertigt, unser erstes Möbel. Deutlich sieht er die schmalen Seitenbretter, zwei Stück nebeneinander, zwei eichene Holzkanten, die die Eheleute über vierzig Jahre getrennt haben. Im hinteren Bett schlief Mutter, im vorderen, der Tür zugewandten der Vater. Als wenn er sie hätte beschützen wollen. Oder einsperren, je nachdem. Kurbjuweit stellt sich genau auf den Fleck, wo Mutter gelegen hat, am Fußende von Vaters Bett, es muss sein, und lässt sich noch einmal langsam auf die Knie. Er packt den unteren Rand des Bettes und schiebt es zur Seite, bis ein keilförmiger Spalt zwischen den Betten entstanden ist.
Und dort steht er, der Karton, der sein Leben verändern wird, hinter Stapeln alter Zeitungen, zwischen Staub und Spinnenweben. Ein grauer Karton, nicht viel größer als ein Schuhkarton, mit angerissenen Deckelteilen, er muss früher oft geöffnet und wieder verschlossen worden sein, verschnürt mit einem verdrehten Paketband, obenauf eine große Schleife über mehreren Knoten. Es sind drei festgezogene Knoten. Daran kann er sich später genau erinnern.
16. Kapitel
In dem Rechtsanwalt Schlüter einen merkwürdigen Brief bekommt
Warum mache ich mir das Leben schwer?, fragte sich Rechtsanwalt Schlüter und ließ den Brief in seiner Hand sinken, den Angela in der Akte Kurbjuweit gegen WGV GmbH vorgelegt hatte. Sollte er eine neue Akte anlegen? Nur für diesen blöden Brief? Schließlich war nicht nur aus der Arbeitsrechtssache gegen die Walther OHG nichts geworden, auch den Mietvertrag im Zusammenhang mit der Nebenkostenabrechnung und dem Schreiben des Sozialamts hatte Kurbjuweit nicht geschickt, sodass in der Mietsache ebenfalls Stillstand herrschte. Die Zeit aber schritt voran; ein neues Jahr hatte angefangen, der Januar war schon verstrichen und bald würde Kurbjuweit entscheiden müssen, ob er auszog oder einen Teil der Miete irgendwie selbst aufbrachte.
Das Telefon klingelte.
Christa, ihre schöne dunkle Stimme, in deren Klang die vielen gemeinsamen Jahre schwangen. Die ersten Krokusse steckten ihre Köpfe aus der Erde, bald würden sie blühen, bald stehe der Frühling vor der Tür und bringe Sonne und schöne Tage. Das wollte sie ihm sagen. Und dass Henry vorbeigekommen sei, Schlichtmann junior. Zum Wochenende komme sein Vater aus der Klinik zurück. Auf die Reha habe er verzichtet, der Hof sei seine Reha, er habe keine Lust auf Anwendungen und Gequatsche in Stuhlkreisen mit schlauen Weißkitteln und Aquarellmalselbstfindungssitzungen und Physioplastikentenwassertraining und überhaupt auf Kontakt mit Leuten, die nichts von der Landwirtschaft verstünden und glaubten, das Essen käme von Dr. Oetker. Mit wem man sich da unterhalten könne? Seine Laune
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