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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Streifen. Jeder schoss zwei Streifen, also zwanzig Schuss, und das in höchstens fünfunddreißig Minuten. Er, Kurbjuweit, schaffte das meistens in zwanzig Minuten, je Minute ein Schuss. Die meisten anderen brauchten länger, und manche hatten sogar Mühe, die Höchstzeit einzuhalten. Weil sie nicht ruhig waren. Weil sie ihren Atem nicht unter Kontrolle hatten. Weil sie vielleicht Stress hatten und an etwas anderes denken mussten. An ihre Frau, die fremdgegangen war. An die heimliche Freundin, die sie hatten, an die Regel, die bei ihr ausgeblieben war. An das Jugendamt, das Alimente forderte. An den Arbeitgeber, der ihnen Übles wollte. An das neue Auto, das sie sich kaufen wollten. An das Geld, das nie reichte. Es gab so vieles, mit dem man seine Gedanken verseuchen konnte, mit dem man seinen Puls auf hundertachtzig bringen konnte. Dann nützte auch das Bier und der Korn nichts, die brachten ihn nur noch höher. Nein, du musst tief atmen, langsam ausatmen, dein Denken ausschalten, bis dein Kopf ganz leer ist, du nur noch den Spiegel siehst hinter Kimme und Korn und sonst nichts. Kurbjuweit war es mit der Zeit gelungen, schon beim Gang zur Schützenhalle ruhig zu werden, und schon beim Öffnen des Gewehrschrankes, dem Herausnehmen des Gewehrs ging sein Atem so ruhig wie in traumlosem Schlaf.
    Er war der Beste in seiner Fünfermannschaft und oft sogar der Beste im Verein, hat von 200 möglichen Punkten nie unter 176 geschossen, sein Rekord waren 193. Er hätte Schützenkönig werden können, wenn er gewollt hätte, aber dafür hat das Geld nie gereicht, denn früher gab es die Königsversicherung noch nicht, den Umlagetopf, der dem König gehörte, aus dem er die Gelage, notwendige Folge der Würde, bezahlen konnte.
    Nachdem sie Hans-Herrmann Rathjens in die Mannschaft aufgenommen hatten, ist Kurbjuweit ausgetreten. Der war wieder mit den alten Sachen angefangen, hatte »Kurbjuhu« gesagt und: »Na, wie haben die Regenwürmer geschmeckt?« Die anderen hatten gelacht, Kameraden, die Kurbjuweit von früher gar nicht kannten, die erst nach den Siebzigern nach Hollenfleth gekommen waren, nichts von seiner Vergangenheit wussten, sich nichts bei seinem Namen dachten, weil inzwischen viele in Hollenfleth wohnten, die auch komische Namen hatten, Bächler, Biebricher, Slej oder Geiser. Trotzdem: Rathjens hatte stets die Lacher auf seiner Seite, er verdarb jedes Mannschaftsschießen, er amüsierte sich auf Kurbjuweits Kosten, indem er all die alten Geschichten erzählte, bis jeder sie kannte. Kurbjuweit hört Rathjens schadenfrohes Gelächter, das wie das Meckern einer Ziege klingt. Niemand ergriff für ihn, Kurbjuweit, Partei, niemand hat Rathjens gesagt, er solle endlich die Fresse halten und aufhören. Und deswegen ist Kurbjuweit aus dem Verein ausgetreten, vor fünf Jahren. Seitdem hat er nicht mehr geschossen. Die Zeiten, dass er Regenwürmer aß, um zu zeigen, wie hart er im Nehmen war und niemand ihn erniedrigen konnte, weil er sich selbst erniedrigte, waren vorbei. Er will sich nichts mehr bieten lassen. Und seit er die Waffe hat, ist das auch nicht mehr nötig. Hätte er die Waffe doch nur früher gefunden! Er malt sich aus, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er früher gewusst hätte, dass er sich wehren kann, wenn Vater ihn zu seinen Lebzeiten eingeweiht hätte.
    Kurbjuweit hat die Pistole wieder zusammengesetzt, sogar mit dem Anschlagkolben. Waffe sichern, Verschluss ganz bis zur Arretierung zurückziehen, Ladestreifen ansetzen, Patronen ins Magazin abstreifen, Ladestreifen entnehmen, Verschluss zurückziehen und nach vorne gleiten lassen. Jetzt ist die Pistole fertig geladen und gesichert. Er hält die Pistole nach oben zur Decke gerichtet, von wo er das Geschiebe und Geschurre hört, das ihm von der Küche gefolgt ist. »Wartet!«, murmelt er und lächelt, so kalt er kann. »Ihr macht mich nicht fertig!«
    Er geht ins Wohnzimmer, hält zwei Meter Abstand von der Balkontür, damit ihn niemand sieht. Beine leicht spreizen, entsichern, Arm heben, langsam atmen, Gedankenleere herbeiführen. Er zielt auf eine Astgabel in dem Weidengestrüpp und stellt sich den Kopf von Hans-Herrmann Rathjens vor, zielt auf die Nasenwurzel, in die Mitte über den Augen. Feuer! Krach! Der Kopf hat ein Loch. Hätte ein Loch, wenn Rathjens dort gestanden hätte. Wenn Kurbjuweit Patronen eingelegt hätte. Dann hätte es gekracht und Rathjens wäre tot gewesen. Oder irgendein anderer, der ihn angreifen wollte. Oder auch mehrere.

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