Die Oger - [Roman]
und öffnete den Deckel der Kiste vor sich. Er entledigte sich seines Gewandes und der Schuhe, nahm einen alten, schäbig aussehenden Kapuzenumhang heraus, legte ihn an und schlüpfte in ein Paar schlecht geputzte Lederstiefel. Eiligen Schrittes bewegte er sich auf das sechs Fuß große Ölgemälde mit dem lebensgroßen Porträt der Königsfamilie hinter seinem Schreibtisch zu, packte den Rahmen und zog es wie eine Tür auf. Dahinter verbarg sich ein kleiner, schmaler Gang, der zu einer Treppe nach unten führte. Felton nahm eine Fackel aus der Halterung und entzündete sie an der Siegelkerze auf seinem Schreibtisch. Dann folgte er der Treppe nach unten und zog das Gemälde wieder hinter sich zu.
Der Geheimgang endete außerhalb des Schlosses im nahe gelegenen Friedhof. Genauer gesagt, in der Gruft einer früheren Mätresse seines Urgroßvaters, was Felton irgendwie poetisch erschien. Das Gemäuer war nicht sonderlich groß, aber hier lag auch nur eine einzelne unbekannte Frau, die niemals Besuch bekam, abgesehen von seiner Wenigkeit. Und auch er verneigte sich nur im Vorübergehen. Der efeuüberwucherte Eingang machte sein unbemerktes Kommen und Gehen zu einem Kinderspiel. Mit gesenktem Haupt und verschränkten Armen trottete er zielstrebig über das Friedhofsgelände bis zum Ausgang. Sein Ziel war eine Schenke in der Nähe des Marktplatzes: die Fürstenstube.
Für Felton war weniger dieser Name der Anlass, seine geheimen Treffen hier abzuhalten, als eher die zahlreichen dunklen Ecken im Schankraum. Ganz besonders wichtig aber war es, dass die horrenden Getränkepreise eine Schutz-vor-lästigen-Fragen-Gewähr boten.
Beim Betreten der Schenke musste Lord Felton zu seinem Missfallen feststellen, dass nur der Wirt und ein einziger Gast anwesend waren. Der Mann hinten in der Ecke war zwar die Person, die er erwartete, doch ein so familiäres Treffen fiel weniger auf, wenn um einen herum mehr Alltagsbetrieb herrschte. Den Blick vom Tresen abgewandt, ging er geradewegs auf den Tisch zu und setzte sich wortlos.
»Seid gegrüßt, Eure Lordschaft«, sagte sein Gegenüber mit einem Nicken.
Der Mann war alles in allem äußerst unscheinbar. Sein Haar war mittellang und mittelbraun, er zählte um die dreißig, war nicht besonders kräftig, hatte ein rundes Gesicht und eine Stupsnase. Seine Kleidung schien eher dem Zufall als gründlicher Auswahl zu entstammen. Er war genau der richtige Mann, um nicht aufzufallen. Bei seiner Beschreibung auf einem Steckbrief wäre die Hälfte aller Männer der Stadt verdächtig gewesen.
»Ihr sollt mich nicht so nennen«, flüsterte Lord Felton. »Was gibt es zu berichten?«
Der Mann beugte sich leicht über den Tisch und verzog die Mundwinkel zu einem breiten Grinsen.
»Die Verdachtsmomente gegen Priester Gidwick verdichten sich. Es scheint doch so zu sein, dass er und dieses Wesen ein und dieselbe Person waren. Von seinen Scharfrichtern fehlt noch immer jede Spur. Die drei Überlebenden sind immer noch nicht ansprechbar, und wenn ich den Heiler richtig verstanden habe, ist ihr Gehirn so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie nie wieder etwas von sich geben werden. Ach, noch etwas: Ich war nicht der Einzige, der sich nach dem Verbleib von diesem Hagrim und dem Oger erkundigt hat. Es gibt da noch ein Zwillingspärchen, die Rache für ihren toten Bruder fordern. Ich glaube, ihre Namen sind Euch hinreichend bekannt.«
Felton zupfte sich an der Nase, um zu kaschieren, dass er mit dem Mann sprach. Sie waren zwar unbeobachtet, aber allein der zufällige Blick eines Passanten konnte ihn in enorme Schwierigkeiten bringen. Es war besser, Vorsicht walten zu lassen.
»Bleib an den beiden dran. Vielleicht haben sie mehr Erfolg als wir.«
Lord Felton zog einen prall gefüllten Beutel aus seinem Umhang und reichte ihn unter dem Tisch weiter.
»Ich hätte da noch eine Kleinigkeit. Heute Morgen sind dreißig Reiter des Königs hier in Osberg eingetroffen. Sie suchen Freiwillige für den Krieg gegen die Kreaturen Tabals. Ich glaube aber, sie sind gar nicht vom König gesandt worden, und es wäre gut, wenn es einen Grund geben würde, dass noch mehr Menschen so denken wie ich. Findet Ihr nicht auch?«
Der kleine Lederbeutel hatte schneller seinen Besitzer gewechselt, als ein Zwerg ein halb volles Glas Starkbier hätte leeren können.
»Ein heikles Unterfangen, aber machbar.«
»Das will ich hoffen, denn die Bezahlung ist auch dementsprechend.«
Der Mann grinste breit und zog eine
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