Die Opferstaette
den Arm um den Hals und streichelte ihn mit der freien Hand. Die Berührung tröstete mich ein wenig, aber sie machte mir auch in aller Schärfe bewusst, dass mich seit einiger Zeit kein menschliches Wesen mehr umarmt hatte.
Ich schüttelte das Gefühl ab, strich dem Hund noch einmal über den Kopf und stand wieder auf. Mein Gefährte sah ein letztes Mal zu mir hoch, als wollte er überprüfen, wie es mir jetzt ging, dann trottete er davon und fing bald wieder an, Stelzenvögel zu jagen.
Die lebhaften Farben hinter den Wolken waren verblasst, die Wolken selbst waren dunkler und bedeckten einen größeren Teil des Himmels. Eine leichte Brise wehte vom Meer herein – der erste Hinweis auf die bevorstehende Wetteränderung. Die letzte Gelegenheit, relativ ungefährdet unter den Klippen in der Intrinsic Bay zu tauchen, würde in wenigen Stunden vorbei sein. Wollte ich sie wirklich verpassen? Der mögliche Gewinn war Wissen, schlicht und einfach. Ein vor langer Zeit verloren gegangenes Puzzleteil, das zu einer Einsicht in die Vergangenheit verhelfen würde, wenn man es wieder entdeckte.
Ich traf eine halbe Entscheidung. Ich würde das Treffen mit Senan Costello jetzt noch nicht absagen. Dann machte
ich kehrt und ging den Weg zurück, den ich gekommen war. An der Bootsrutsche, wo ich Costello später treffen sollte, herrschte Betrieb. Ein schwarzes RIB mit einigen Tauchern in dunklen Nassanzügen an Bord war um die Pier herumgekommen und lag auf der Rutsche. Die Flut war inzwischen weit genug draußen, dass ich auf dem Rückweg zum Hotel ziemlich nahe an ihnen vorbeigehen konnte.
Zwei der Taucher standen auf dem Pier, als ich näher kam, und zwei ihrer Kollegen waren noch an Bord und reichten längliche Pakete zu ihnen hinauf, etwa so groß wie eine Sporttasche und in schwarze Plastikfolie verpackt. Als sie etwa zehn von den Paketen gestapelt hatten, verließen die letzten Taucher das Boot und trugen die Pakete alle miteinander zu einem Geländewagen, der neben dem Bootshaus für das Rettungsschiff von Kilkee stand.
Ich beobachtete sie aus einiger Entfernung und fragte mich, ob es sich um einen Drogenfang handelte – vielleicht war ein Schmugglerboot irgendwo an der Küste aufgebracht worden. Aber wenn ja, wieso wurden die Drogen dann nicht in einem Fahrzeug der Polizei oder Küstenwache weggebracht?
Zuerst glaubte ich, außer mir sei niemand in der unmittelbaren Nähe der Taucher. Aber als ich die Steintreppe zur Straße gegenüber vom Hotel hinaufstieg, sah ich einen Mann in einer Kapuzenjacke hinter dem Bootshaus hervorkommen und etwas zu den Männern sagen, die die Pakete verluden. Das blasse Gesicht in der Kapuze war unverkennbar. Die Jacke war offen, und darunter trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd. Jonas Zitaras war in seiner Arbeitskleidung gekommen.
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V or lauter Verwunderung über das, was ich gesehen hatte, hörte ich den Angestellten am Empfang des Hotels nicht rufen, als ich die Eingangshalle durchquerte. Ich hatte eben den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, als er mich einholte und mir einen Umschlag überreichte.
In meinem Zimmer setzte ich mich müde aufs Bett, um den Inhalt zu lesen. Ich erwartete eine Aufforderung, zu dem von Rattigan angekündigten Gerichtstermin zu erscheinen oder etwas Ähnliches. Das Kuvert enthielt einige DIN-A4-Seiten, an die ein von Hand geschriebener Zettel geheftet war.
Tut mir leid, dass ich Sie in Schwierigkeiten gebracht habe. Das hier wollten wir gerade holen. Giles K.
Die Papiere waren eine getippte Abschrift des Briefes von Charlotte Brontë an ihren Vater. Ich legte sie auf den Tisch und setzte den Kessel auf. Ich hatte keinen Appetit, aber eine Tasse Tee war in Ordnung.
Gestern kamen wir durch das East End, das in Wirklichkeit das Dorf ist, in dem die Einwohner von Kilkee leben; viele von ihnen dienen in den Unterkünften des West Ends, wo Leute wie wir uns in den Sommermonaten niederlassen. Über und hinter dem Dorf liegt George’s Head, unser Ziel, wo man ein Picknick vorbereitet hatte und das
uns mit Ausblicken belohnte, die wie so viele an dieser Küste zugleich erhebend und düster zu schauen sind.
Ein Gentleman aus Limerick, mit dem mein Mann Bekanntschaft geschlossen hatte, begleitete uns mit seiner Frau, und während wir unser Mahl genossen, erzählten sie uns viele Dinge über die Gegend und ihre Geschichte, die wir bisher noch nicht gewusst hatten.
Uns war natürlich bekannt, dass die Hungersnot hier noch bis vor Kurzem
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