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Die Opferung

Die Opferung

Titel: Die Opferung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Masterton
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fingerte sie an ihrem Ehering. Fast so, als sei er ein Rosenkranz und als sage sie ihre Gebete auf. Der Wind wehte warm und roch nach Seetang. Die Sonne wurde in den kleinen Tümpeln reflektiert, so wie Stücke eines zerschlagenen Spiegels.
    »Der alte Mr. Billings hat - glaube ich - mit Zucker ein Vermögen verdient. Er war ein Freund von Dr. Barnardo, damals, als Dr. Barnardo noch im London Hospital arbeitete. Als Dr. Barnardo seine ersten Heime für obdachlose Jungs eröffnete, hielt der alte Mr. Billings das für eine so gute Idee, dass er Fortyfoot House baute. Es war ein Waisenhaus, damit arme Kinder aus dem Londoner East End herkommen und am Meer leben konnten.«
    »Jetzt, wo Sie es erwähnen, glaube ich, dass ich davon mal gehört habe«, sagte ich zu ihr. »Hieß es zu Beginn nicht Billings Home?«
    Doris nickte. »Das ist richtig. Und es hatte auch einen guten Ruf. Sogar Königin Viktoria besuchte es. Aber nach zwei oder drei Jahren starb der alte Mr. Billings, oder er wurde ermordet. Das weiß niemand so genau. Es heißt, dass ihm irgendetwas ganz Entsetzliches zustieß. Der junge Mr. Billings übernahm das Waisenhaus, aber es war nicht mehr so wie zuvor. Bestimmte Leute gingen dort ein und aus. Einen Kerl gab es, der angeblich das Fortyfoot House besucht hatte, der hatte ein Gesicht, das wie mit braunem Fell überzogen war und dessen Anblick niemand aushalten konnte. Jedenfalls sagte das meine Mutter immer. Als ich noch klein war, hat sie mich mit ihren Geschichten fast zu Tode erschreckt.«
    Sie machte eine kurze Pause. »Und dann - ich weiß nicht, in welchem Jahr - starben alle Waisenkinder innerhalb von zwei oder drei Wochen. Niemand fand je heraus, was mit ihnen geschehen war. Angeblich soll es eine Nacht gegeben haben, als in dem Haus alle möglichen Geräusche zu hören und seltsame Lichter zu sehen waren. Die Menschen schrien in Sprachen, die niemand verstehen konnte. Am nächsten Morgen wurde der junge Mr. Billings wahnsinnig angetroffen. Es heißt, dass er vollkommen verrückt war. Einfach völlig durchgedreht. Er erzählte, er habe eine andere Welt besucht und Dinge gesehen, die schrecklicher waren als alles, was je ein Mensch gesehen hatte. Und es wurde immer schlimmer, er wurde immer verrückter. Nach drei Jahren wurde er in Newport eingewiesen, aber er erhängte sich in seiner Zelle. Das war zwar sein Ende, aber seitdem hat sich jeder, der in Fortyfoot House gelebt hat, über die Geräusche und die Lichter beklagt. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Und ich weiß, warum die Tarrants ausgezogen sind.«
    Ich warf Liz einen langen nüchternen Blick zu. Mit jedem weiteren Wort hörte sich die Geschichte immer stärker nach Seemannsgarn an. Gut für die Touristen. Geeignet für einen späten Sommerabend, wenn die Sonne lange Schatten wirft. Ich fühlte mich dagegen in meiner Ansicht bestärkt, dass -sofern überhaupt etwas mit Fortyfoot House nicht stimmte -es seine starke Ausstrahlung war, das intensive Gefühl einer Verbindung zur Vergangenheit. Es hatte nichts mit Geistern oder Lichtern zu tun. Oder mit >Dingen, die schrecklicher sind als alles, was je ein Mensch zuvor gesehen hat<.
    Ich gab Doris einen Fünfer und sagte, sie solle das Wechselgeld behalten.
    Als wir das Strandcafe verließen, kam sie hinter uns her zum vorderen Ausgang und sagte: »Halten Sie die Augen offen und passen Sie auf sich auf. Wenn Sie ein helles Licht sehen, dann sollten Sie um Ihr Leben rennen. Jedenfalls würde ich das an Ihrer Stelle tun.«
    »Danke für den Tip«, sagte ich und ergriff Liz' Hand.
     
     
    Wir stiegen den steilen Pfad zurück zum Gartentor hinauf. Es war mittlerweile heiß geworden, und die Luft roch intensiv nach frischem Teer und Nesseln. Wir gingen unter den Bäumen hindurch über die Brücke zurück in den Garten. In der sengenden Hitze sah das Haus noch seltsamer aus als zuvor. So als sei es nichts weiter als ein hell beleuchtetes Gemälde.
    Liz blieb stehen. »Nimmst du Untermieter auf?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich das darf.«
    »Nein, nein, ich habe nicht meinetwegen gefragt. Ich habe bloß jemanden aus einem der oberen Fenster herausschauen sehen.« Ich blieb stehen und hielt meine Hand über die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. Soweit ich das sehen konnte, waren alle Fenster schwarz und leer. »Welches Fenster war es?«, fragte ich sie.
    »Das da, gleich unter dem Dach.«
    »Und wie hat dieser Jemand ausgesehen?«
    »Ich weiß

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