Die Orangen des Präsidenten
Flaggen werden alle im Wasser versinken. Dieser S wird der letzte diktatorische Herrscher auf unserer Erde sein. Nach ihm kommen nur noch Imam Al-Mahdi und Jesus Christus und danach das Ende der menschlichen Geschichte. In den anderen Büchern wird S Al-Aoer Al-Daddschal – Der Einäugige Betrüger – genannt. Es gibt sehr unterschiedliche und zahlreiche Überlieferungen und Berichte darüber, warum er so genannt wird, wie er aussieht und wo und wann er auftaucht. Einer der Berichte behauptet, er werde Der Einäugige Betrüger genannt, weil er im Schlaf nur ein Auge schließt und mit dem anderen alles ganz genau beobachtet. Wie Saddam. Er ist uneinschätzbar. Unheimlich. Ich glaube fest daran, dass dieser S Saddam ist. Er hat alle seine Feinde in den Arabischen Golf gelockt, um dort aus ihnen Fischfutter zu machen.«
Adnan ergänzte diese Prophezeiung murmelnd: »Wenndas stimmt, dann ist dieses Loch unser Grab. Woher hast du so einen Mist, Said? Ich kriege eine Gänsehaut.«
Doch im Arabischen Golf wurden weder Ritter, Schiffe, Waffen, Flaggen noch Armeen versenkt. Das konnten wir eines Tages mit Gewissheit feststellen.
Der Tag dieser Gewissheit begann seltsam. Wir hörten gar nichts von draußen. Keiner der Wärter kam zu uns, um uns für den Spaziergang auf den Flur zu lassen. Adnan versuchte, durch das kleine Loch in der Tür etwas zu sehen, aber vergeblich. Er rief einem aus der letzten Zelle zu, er solle durchs Schlüsselloch schauen, ob sich jemand im Vorraum befinde.
»Und, siehst du was?«
»Ich sehe den Vorraum. Keiner da.«
»Okay. Hört mir alle zu. Wir bleiben ruhig sitzen! In einigen Stunden muss das Essen kommen. Dann werden wir erfahren, was los ist.«
Alle schwiegen. Adnan betrachtete uns. Er holte Luft, als wolle er etwas sagen, schwieg jedoch.
»Was willst du uns sagen, Adnan?«, fragte ich.
Er erhob sich ächzend. »Ich glaube, die Amerikaner sind da. Ich bin seit mehr als zwei Jahren in diesem Loch, doch so was hat es noch nie gegeben. Einfach keine Wärter da. Aber das heißt nicht, dass wir gerettet sind. Wohl eher sind wir so gut wie tot. Unter der Erde. Ich weiß nicht, wie man uns hier finden soll!«
»Wir sind im Gefängnis. Irgendwo in Nasrijah. Ob unter oder über der Erde, wissen wir nicht. Es könnte sein, dass es einen Eingang gibt. Einen sichtbaren Eingang, der zu uns führt. Sei bitte optimistisch!«
Es herrschte Totenstille. Jede Stunde fragte Adnan, ob jemand etwas gehört oder gesehen habe. Nichts. Auch nach Stunden kam das Essen nicht. Der Hunger machte sich dieses Mal aber nicht so stark bemerkbar. Ich vergaß ihn völlig. Die Sekunden rückten immer langsamer vor. Dann kam der große Krawall. Zahllose Schüsse. Einschläge ganz nah. Danach wieder weiter entfernt. Ein Gefangener begann wieverrückt zu brüllen: »Wir sind hier! Helft uns! Wir sind hier! Hilfe!«
Und alle anderen taten es ihm gleich. Wir standen auf, schlugen hysterisch an Tür und Wände und schrien uns die Seele aus dem Leib. »Hilfe! Help us, please!«
Die Geschosse kamen wieder näher. Draußen Stimmen. Und Schritte, sehr nah. Wie auf Kommando hörten wir plötzlich alle auf zu schreien. Ich hörte nur noch das starke Klopfen meines Herzens und das heftige Ein- und Ausatmen meiner Mitgefangenen.
Plötzlich drang eine Stimme an unser Ohr. »Lebt da noch jemand?«
Keiner muckste auf. Absolute Stille. Nach einigen Sekunden rief Adnan: »Ja. Wir sind hier.«
»Keine Angst. Ruhig bleiben! Setzt euch auf den Boden. Verstanden?«
»Ja«, antwortete Adnan.
Es folgte eine Serie von Schüssen, deren Echo stark in unseren Ohren nachhallte. Dann Lärm an der Haupttür. Das Poltern von Stiefeln näherte sich. »Weg von der Tür! Macht Platz!«, kommandierten mehrere Stimmen gleichzeitig.
Eine Salve von Geschossen donnerte gegen die Zellentür. Ich schloss die Augen und hörte eine kräftige Stimme: »Friede sei mit euch!«
Als ich die Augen wieder öffnete, stand ein Mann in Zivil vor uns mit einer Waffe in der Hand.
»Wir sind politische Häftlinge. Wer sind Sie?«, fragte Adnan.
»Amerikaner?«, fragte ein anderer Gefangener.
»Iraker. Nicht Amerikaner. Ihr seid frei. Die Regierung ist gestürzt. Untergegangen. Es gibt einen Aufstand im ganzen Land. Wir sind eure Brüder.«
Atemlose Stille. Ich fühlte, wie mein Körper sehr schwer wurde. Eine völlige Leere beherrschte meine Seele. Keine Empfindung. Kein Gedanke. Ich nickte mit dem Kopf undweinte. Auf einmal weinten alle. Aus den Augen des
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