Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
es in kürzester Zeit beweisen konnte.
Auch das musste er, wenn ihm sein Leben lieb war.
Er versank ganz und gar in den Horizonten der Harmonie, wie das Stück auf Deutsch hieß, die Töne erzeugten in ihm Bilder – erst verschwommene Gemälde voll ineinanderlaufender Farben, nicht schrill, sondern ein Ton aus dem anderen hervorgehend und sich verzweigend, aber passend und alle Bereiche des Spektrums ausfüllend wie ein Regenbogen. Dann bewegten sich die einzelnen Farbfelder – das helle Blau wanderte nach oben, das Grün und das Braun nach unten, ein tieferes Blau siedelte sich unter dem gedachten Horizont an, und auf einmal wurde Zeno klar, dass er sich in eine Landschaft geträumt hatte – in eine Welt, die ein wenig jener ähnelte, in die ihn der Meister der Alten Seelen geführt hatte.
Das konnte doch kein Zufall sein.
Es war doch schon ein Beweis, dass Zeno auch einer von ihnen war, eine von den Alten Seelen, deren Wissen eines Tages die Welt verändern sollte, alles wieder zum Guten wenden musste, dafür zu sorgen hatte, dass alle Menschen Brüder wurden …
Doch Zeno war klar, dass dem nicht so war. Hätte er doch Maras Namen nicht gelesen, bevor er die Musik hörte. Nun steckte er in einem Teufelskreis fest. Er wollte etwas beweisen, an das er bereits glaubte. Dieser Teufelskreis war eine der Schwächen, die ihn bei den Alten Seelen immer wieder heimsuchte.
Die Alten Seelen glauben nicht, hatte der Meister ihm am Anfang gesagt. Sie wissen. Und was du weißt, werden wir herausfinden, und dabei werden wir feststellen, ob du überhaupt etwas weißt. Und wenn du nichts weißt, gehörst du nicht zu uns.
Zeno hatte das Musikstück auf unendliche Wiederholung gestellt, um den hypnotischen Kreis, in dem sich die Musik bewegte, möglichst oft zu erleben. Doch irgendwann drängten sich die Gedanken des Zweifels in seinen Kopf, die Landschaft vor seinem inneren Auge erstarb, verblasste, sank in sich zusammen. Noch nicht einmal die Farben blieben übrig, und mit einem Mal weckte die Musik in Zeno eine unerträgliche Übelkeit.
Ein Schwall Magensäure schoss ihm in die Speiseröhre. Er keuchte und schluckte. Das Unbehagen machte ihm unmissverständlich klar, dass er wieder ganz und gar im Hier und Jetzt angekommen war. Das Surren der Klimaanlage im Flugzeug. Eine graue Stadt hinter den Fenstern. Die lang gezogenen Straßen, das gleichmäßige Dahinziehen der winzigen Autos auf einer Autobahn, weit geschwungene Bündel von dunklen Bahngleisen.
Der Pilot meldete sich und erklärte, dass die Landung in Berlin-Tegel unmittelbar bevorstand.
Am Ausgang des Flughafens setzte er sich in eine Wartezone und zog sein iPad aus dem Rucksack – seinem einzigen Gepäckstück. Er hatte die Informationen über den Ort von Grittis Unfall gespeichert, außerdem die Presseberichte und Fotos. Sogar ein Video hatte er gefunden, das in einer regionalen Vorabendsendung ausgestrahlt worden war.
Am einfachsten würde es sein, einen Wagen zu mieten.
Zeno suchte die Schalter auf, und zwanzig Minuten später fand er auf einem Sonderdeck im Parkhaus einen unauffälligen silberfarbenen kleinen Opel.
Dann arbeitete er sich durch den Stadtverkehr – immer einen kurzen Blick auf das Navigationssystem in seinem Tablet-Computer gerichtet. Außerhalb von Berlin war die Umgebung plötzlich überraschend ländlich und bewaldet – jetzt im Herbst freilich trotzdem trist und melancholisch.
Mehrere Male blieb Zeno stehen und verglich die Fotos mit der Wirklichkeit. Ja, er war auf der richtigen Straße, aber etwas stimmte nicht. Der Zaun, die Weide, der Abstand zum nächsten Waldstück …
Zeno fuhr weiter und weiter, und als er endlich an den Unfallort kam, musste er keine Bilder mehr vergleichen. Der Zaun an der Straße war durchbrochen, das kurze Gras und die Erde in einer breiten Spur aufgeschrammt und an einigen Stellen von schwarzen Rückständen bedeckt.
Das Auto war verbrannt. Das hatte Zeno gelesen.
Zeno stieg aus, sah sich die Spuren von Grittis Unfall genau an, fand aber nichts, was er nicht schon gewusst hätte.
Ein Stück weiter schmiegte sich ein altes Haus an die Straße – abgeblätterter Putz, die Dachziegel mit schmutzigem Moos bedeckt. Eine grüne Bierwerbung war wohl einmal das Ziel von Steinewerfern geworden. In der Mitte des einst von innen beleuchtbaren Glaskörpers befand sich ein faustgroßes schwarzes Loch.
Er musste sich nun mit Mara befassen, sich überlegen, wie er an sie herankam. Nur ein paar Minuten musste
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