Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
oder handelt es sich um die Übertreibung einer Sage?
Wir erleben in unserer Umgebung überall Musik: in Filmen, in Werbespots, in Fahrstühlen, auf Bahnhöfen. Die Menschen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, Musik zu hören – wahrscheinlich so viel Zeit wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Musik ist durch die modernen technischen Medien allgegenwärtig. Jederzeit abrufbar. Und das Wichtigste ist: Es besteht ein gewaltiges Bedürfnis danach. Es ist nichts, was den Menschen aufgedrängt werden müsste. So ist es unbestritten, dass die Musik nach wie vor ein großes psychologisches Potenzial besitzt, das jedoch niemand systematisch ausbeuten kann …
Sie scrollte weiter und weiter. Und plötzlich entdeckte sie Grittis Namen in dem Text. In einer Fußnote wurde er erwähnt: John S. Gritti. Es folgten einige erklärende Zeilen.
Diesem Komplex hat der Industrielle John S. Gritti einen Teil seines Vermögens gewidmet, jedoch ohne wirkliche Erfolge zu erzielen. Seine Firma JSG Music, die er in den Siebzigerjahren gründete, versuchte, den Betreibern der damals boomenden großen Einkaufszentren in Amerika fertige Konzepte anzubieten – inklusive der Technologie, um die Musik in den großen Räumen ausgewogen abzuspielen. Gritti finanzierte umfangreiche Forschungen, um herauszufinden, wie die Musik, die eine konsumfördernde Wirkung haben sollte, beschaffen sein musste: Nicht nur die Melodien erforschte er, sondern auch die Tempi, die Lautstärke, die Wirkung bestimmter Klangfarben oder Stimmlagen, Harmonien und Rhythmen. Auf einer Pressekonferenz Anfang 1981 in Los Angeles musste Gritti jedoch eingestehen, dass diese Untersuchungen zu keinen brauchbaren Ergebnissen geführt hatten. Dass Musik in Einkaufszentren stimulierend wirkte, konnte bewiesen werden – auch durch diese Studie –, aber welche Musik genau das Ei des Kolumbus darstellt, weiß nach wie vor niemand. Man müsste schon die Musik des antiken Orpheus wiederfinden und ihre Wirkung analysieren. Doch zwei Argumente zeigen, dass dies unmöglich und wahrscheinlich ebenfalls nutzlos ist: Zum einen besaßen die alten Griechen keine so genaue Notenschrift wie unsere Kultur, und auch hinsichtlich der verwendeten Instrumente, der Improvisationsanteile und so weiter tappen wir fast vollkommen im Dunkeln. Außerdem besitzt jede Kultur ihre eigene musikalische Sprache, hat eigene musikalische Standards, mit denen ein Mensch, der in dieser Kultur lebt, aufwächst, sie sozusagen erlernt. Und nur wenn man zu der jeweiligen Kultur gehört, kann man die emotionale Grundlage, auf der die Musik jeweils beruht, überhaupt wahrnehmen und nachempfinden. Und nur wenn das gelingt, wird man sich von der Musik auch emotional beeinflussen lassen.
Somit ist das Orpheus-Projekt eine höchst spekulative Angelegenheit und zum Scheitern verurteilt.
Mara nahm die Hand von der Tastatur. Wenn das die Dokumente sein sollten, die Orpheus meinte – was hatte sie, Mara, damit zu tun? Welchen Zusammenhang gab es zwischen ihr, ihrer Musik und dieser komischen Idee, eigens Musik für Supermärkte und Boutiquen oder sonst was zu kreieren?
Aber da waren ja noch mehr Dokumente. Sie öffnete ein neues Unterverzeichnis, das vor allem PDF s und Bilder enthielt.
Hier hatte jemand alte Texte abfotografiert. Auszüge aus Büchern. Eine ganze Reihe von Abbildungen zeigten alte Noten. Melodien in strenger, gestochener Darstellung. Alte Notenschriften.
Und wieder etwas anderes: die Zeichnung einer Spirale, aber nicht von oben, sondern von der Seite betrachtet wie ein aufgeschnittenes Schneckenhaus. In altertümlichen Lettern stand darüber: »Dantes Inferno«. Einzelne Teile dieser Spirale waren mit Linien versehen, die auf kleinere Texte am Rand der Zeichnung verwiesen. Mara zoomte das Dokument heran und erkannte so etwas wie Menschen auf der Spirale. Zuerst hatte Mara noch gedacht, es könnte sich um etwas Technisches handeln, um eine Maschine oder etwas Ähnliches. Jetzt wurde ihr klar, dass es der Plan einer Höhle war.
Und wieder eine neue Datei: ein Text auf Deutsch, ebenfalls abfotografiert und daher als Bilddatei auf dem Rechner.
Warum machte jemand Fotos von solchen Texten? Weil er sich in einem Archiv befand, wo er die Dokumente nicht kopieren durfte. Und zum Abschreiben blieb keine Zeit.
Mara überflog die Zeilen, was ihr nicht leichtfiel, denn es war alte deutsche Schrift, die schwierig zu lesen war.
Ekstase, las sie. Improvisation.
Die Geheimnisse von
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