Die Päpstin
Scharen; sie hatten sich ihre spärlichen Habseligkeiten
auf den Rücken geschnallt und ihre Toten auf Karren geladen. Alle erzählten ähnliche Geschichten über die Greuel und Grausamkeiten
der Franken. Diese erschreckenden Berichte spornten die Römer dazu an, ihre Verteidigungsanlagen zu verstärken; Tag und Nacht
arbeiteten die Bürger entschlossen daran, die Müll- und Schuttschichten abzutragen, die sich im Laufe der Jahrhunderte an
den Stadtmauern |374| angesammelt hatten, so daß es für einen Feind ein leichtes war, die Mauern zu erstürmen.
Auch die Priester Roms waren von Tagesanbruch bis tief in die Nacht beschäftigt; sie lasen Messen und nahmen Beichten ab.
Die Kirchen waren zum Bersten gefüllt; in den Reihen der Gläubigen befand sich eine Vielzahl bislang unbekannter Gesichter,
denn die Furcht hatte viele Gleichgültige und Wankelmütige zu neuem Glauben geführt. Fromm entzündeten sie Kerzen und erhoben
ihre Stimmen beim Gebet für die Sicherheit ihrer Familien und Häuser – und für die Genesung des kränkelnden Sergius, auf dem
all ihre Hoffnungen ruhten. Möge die Kraft des Herrn unseren Heiligen Vater erfüllen, beteten die Menschen; denn gewiß wird
er große Tapferkeit und Stärke brauchen, um Rom vor dem Teufel Lothar zu retten.
Sergius’ Stimme stieg und fiel, als er die liebliche Melodie des römischen Liedes sang, schöner und inbrünstiger als die anderen
Jungen auf der
scola cantorum
. Der Gesangslehrer lächelte Sergius beifällig an. Ermutigt sang er noch lauter; in freudiger Verzückung stieg seine junge
Sopranstimme höher und höher, bis sie mit dem Himmel zu verschmelzen schien …
Der Traum verblaßte, und Sergius kehrte in die rauhe, beängstigende Wirklichkeit zurück. Eine unbestimmte und unerklärliche
Furcht nagte in seinem Innern, bestürmte seinen Geist und ließ sein Herz rasend schnell schlagen, noch bevor er wußte, worauf
diese Angst sich gründete.
Dann fiel es ihm ein, und es schnürte ihm die Kehle zu.
Lothar.
Sergius setzte sich ruckartig auf. Ihm dröhnte der Schädel, und ein widerlicher Geschmack lag ihm auf der Zunge. »Celestinus!«
Seine Stimme knarrte und quietschte wie eine rostige Türangel.
»Heiligkeit?« Schläfrig erhob Celestinus sich vom Fußboden. Mit seinen weichen, rosigen Wangen, den runden Kinderaugen und
dem zerzausten blonden Haar sah er wie ein Posaunenengel aus. Gerade erst zehn Jahre alt, war Celestinus der jüngste aller
cubicularii
– jener jungen Männer aus vornehmen römischen Familien, die man für das begehrte Amt des päpstlichen Kammerdieners ausgewählt
hatte. Celestinus’ Vater besaß großen Einfluß in der Stadt; deshalb war der Junge noch eher als die anderen in den Lateranpalast
gekommen. |375|
Aber
, dachte Sergius bei sich,
er ist nicht jünger, als ich es gewesen bin, als man mich damals aus dem Elternhaus fortholte.
»Hol Benedikt her«, befahl Sergius. »Ich möchte mit ihm reden.«
Celestinus nickte und eilte davon, wobei er ein Gähnen unterdrückte.
Mit einem Servierbrett voller Brot und Speck trat einer der Küchendiener ins Zimmer. Eigentlich hätte Sergius erst etwas zu
sich nehmen dürfen, wenn er die Messe gelesen hatte; denn eine Hand, die die Hostie berührte, durfte nicht von weltlichen
Dingen befleckt sein. Doch im privaten Bereich wurden solche unbedeutenden Förmlichkeiten häufig mißachtet – besonders, wenn
der betreffende Priester ein Mann mit übermäßigem Appetit war, wie Sergius.
An diesem Morgen aber ließ der Duft des Specks Übelkeit in Sergius aufsteigen, und er winkte dem Diener, das Tablett wieder
fortzubringen.
Ein päpstlicher Notar kam ins Zimmer und verkündete förmlich: »Seine Gnaden, der Erzpriester, erwartet Euch im
triclinium.«
»Laßt ihn warten«, erwiderte Sergius knapp. »Zuerst spreche ich mit meinem Bruder.«
Schon in so mancher Krisensituation hatte sich Benedikts nüchterner Verstand als unschätzbar wertvoll erwiesen. Es war seine
Idee gewesen, Geld aus der päpstlichen Schatzkammer zur Beschwichtigung Lothars zu verwenden. 50000
solidi
in Gold sollten den verletzten Stolz des Kaisers beschwichtigen.
Celestinus kehrte zurück. Doch er wurde nicht von Benedikt, sondern vom Haushofmeister Arighis begleitet.
»Wo ist mein Bruder?« fragte Sergius.
»Fort, Heiligkeit«, antwortete Arighis.
»Fort?«
»Ivo, der Pförtner, hat ihn kurz vor Tagesanbruch mit ungefähr einem Dutzend Begleiter wegreiten sehen.
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