Die Päpstin
sowie die Reliquien mehrerer Heiliger, die in dieser Gegend besonders verehrt wurden: eine Haarsträhne vom heiligen Willibrord;
einen Fingernagel vom heiligen Romarik; zwei Zähne von der heiligen Waldetrudis und einen Fetzen Stoff vom Umhang der jungfräulichen
Märtyrerin Genoveva.
Der Mann nahm ein Fläschchen aus seiner ledernen Schäfertasche.
»Wißt Ihr, was da drinnen ist?« Seine Stimme war so leise, daß Johanna ihn bei dem Lärm ringsum kaum verstehen konnte. Sie
schüttelte den Kopf.
»Ein paar Tropfen Milch.« Die Stimme des Mannes wurde noch leiser und verschwörerischer. »Von der heiligen jungfräulichen
Mutter Gottes.«
Johanna konnte es nicht fassen. Was für eine unvorstellbare Kostbarkeit! Aber was hatte sie hier auf diesem Markt zu suchen?
So etwas gehörte in ein großes Kloster oder in einen Domschatz.
»Macht einen
denarius
«, sagte der Mann.
Einen
denarius
! Johanna betastete die Silbermünze, die sie in ihrem Ranzen verstaut hatte. Der Mann hielt ihr das Fläschchen hin, und Johanna
nahm es; seine Oberfläche war kühl in ihrer Hand. Ganz kurz sah sie ein Bild vor ihrem geistigen Auge: Der Ausdruck auf Odos
Gesicht, wenn sie mit einem solchen Geschenk für den Dorstädter Domschatz nach Hause kam.
Der Händler lächelte, streckte die Hand aus und schnippte auffordernd mit den Fingern, um Johanna die Münze zu entlocken.
Johanna zögerte. Weshalb verkaufte der Mann eine derartige Kostbarkeit für eine so geringe Summe? Die Reliquie war ein Vielfaches
wert. Manche Abtei oder mancher Domherr hätte ein Vermögen dafür gegeben; denn ein so heiliger Gegenstand hätte Pilger angelockt
und einen Wallfahrtsort begründet.
Johanna nahm den Verschluß von dem Fläschchen und spähte hinein. Es war ungefähr halbvoll. Sie konnte die bleiche |169| Oberfläche der Milch sehen, die glatt und blauweiß im Sonnenlicht schimmerte. Kurz entschlossen schob Johanna den kleinen
Finger ins Fläschchen und tauchte die Fingerspitze in die milchige Flüssigkeit. Dann schaute sie auf; der Blick aus ihren
wachen, klugen Augen schweifte über den Verkaufsstand und dessen nähere Umgebung. Johanna lachte, setzte das Fläschchen an
die Lippen und trank.
Der Mann schrie leise auf. »Hast du den Verstand verloren?« fragte er mit wutverzerrtem Gesicht.
»Köstlich«, sagte Johanna, drückte den Verschluß wieder auf das Fläschchen und reichte es dem Mann zurück. »Meine besten Empfehlungen
an Eure Ziege.«
»Himmel noch mal! Du … du …«, stammelte der Mann, der vor Zorn und Enttäuschung offenbar keine Worte fand. Für einen Augenblick
sah es so aus, als wollte er um den Verkaufsstand herumkommen und auf Johanna losgehen, als plötzlich ein tiefes Knurren ertönte:
Lukas, der bis dahin still neben Johanna gesessen hatte, stellte sich vor dem Mädchen auf. In seinen Augen loderte es gefährlich,
und drohend hatte er die scharfen Zähne gefletscht.
»Was … ist das?« fragte der Reliquienhändler.
»Das«, sagte eine Stimme hinter Johanna, »ist ein Wolf.«
Die Stimme gehörte Gerold. Während des Wortwechsels Johannas mit dem Verkäufer hatte er sich leise genähert. Jetzt stand er
lässig da, die Arme vor der Brust verschränkt, das rechte Bein vor das linke geschlagen, doch in seinen Augen lag eine deutliche
Warnung. Der Verkäufer wandte sich ab und murmelte irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Gerold legte Johanna den Arm
um die Schultern und führte sie davon, nachdem er Lukas herbeigerufen hatte, der immer noch vor dem Ladentisch stand und den
Verkäufer anknurrte. Doch auf Gerolds Ruf kam er herbeigerannt.
Gerold schwieg. Schweigend gingen sie über den Jahrmarkt, wobei Johanna schneller ausschreiten mußte, um mit dem großen Mann
mithalten zu können.
Er ist wütend,
ging es ihr durch den Kopf, und ihre gehobene Stimmung erlosch so plötzlich wie ein ersticktes Herdfeuer.
Und was die Sache noch schlimmer machte: Johanna wußte, daß Gerold recht hatte. Sie war leichtsinnig gewesen, als sie den
Händler herausgefordert hatte. Hatte sie Gerold nicht versprochen, vorsichtig zu sein? Warum mußte sie bloß |170| immer irgendwelche Dinge in Frage stellen? Warum konnte sie es nicht begreifen:
Manche Gedanken sind gefährlich.
Vielleicht bin ich ein unverbesserlicher Dummkopf.
Dann hörte sie ein tiefes, rollendes Geräusch: Gerold lachte leise.
»Der Gesichtsausdruck des Mannes, als du das Fläschchen an die Lippen gesetzt und es
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