Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
weniger Angst als vielmehr eine bange Anspannung; sie fragte sich, wie sie je wieder aus dem Wald herausfinden sollten, sofern diese sonderbaren Leute sie gehen ließen. Sie wirkten weniger feindselig, dennoch stand fest, dass Cadvan und Maerad ihre Gefangenen waren. Wie sollten sie es nun je nach Norloch schaffen?
Zu Mittag am nächsten Tag erreichten sie einen breiten Fluss, der reißend in einem felsigen Bett zwischen hohen Ufern dahinschoss. »Das könnte der Cirion sein, der unkartiert durch den Großen Wald fließt«, meinte Cadvan zu Maerad. »Er verläuft vom Osidh Elanor durch Lirhan und anschließend in den Wald, wo er von den Landkarten verschwindet. Allmählich fallen mir wieder Geschichten aus meiner Kindheit über das wilde Volk ein, die Deridhu, die im Herzen des Waldes leben. Angeblich kommen sie des Nachts daraus hervor und bescheren den ungehorsamen Kindern Albträume, und es heißt auch, sie reiten die Kühe, sodass sie am nächsten Morgen blicklos vor sich hinstarren und keine Milch geben. Vielleicht sind solche Geschichten eine überlieferte Erinnerung an diese Leute. Viele vergessene Dinge leben in Kindergeschichten weiter.« Maerad betrachtete die Bogenschützen; sie wirkten viel zu grimmig, um sich auf wilde Kuhritte zu begeben.
Der Pfad verlief noch eine Weile das Flussufer entlang, dann wandte er sich nach links. An jener Stelle gab es eine Möglichkeit, das Wasser zu überqueren. Zwar war keine Brücke vorhanden, aber die Böschungen fielen weniger steil ab, und der Fluss verbreiterte sich und wurde flacher. Ein Bächlein zweigte vom Hauptarm ab und wand sich müßig durch die Bäume. Der Übergang entsprach nicht ganz einer Furt, doch Penar watete hinüber und band ein Seil um einen Baum am anderen Ufer. Mit seiner Hilfe gelangten sie wohlbehalten zur anderen Seite. Dort folgten sie dem kleinen Nebenarm, wobei ihnen auffiel, dass das goldene Licht der Sonne immer heller zu leuchten schien und die Bäume noch weiter auseinander standen, sodass sie bisweilen das Gefühl hatten, sich eher auf einer baumbewachsenen Weide als in einem Wald zu befinden. Sie hielten nicht an, um zu Mittag zu essen, und die Sonne setzte bereits zu ihrem langen Abstieg an, als sie plötzlich aus den Bäumen hervorbrachen und ein langes, grünes Tal mitten im Herzen des Waldes überblickten.
Maerad stand vor Erstaunen der Mund offen. Vor ihnen erstreckte sich eine gänzlich aus Holz erbaute Stadt. Alle Gebäude waren an sich niedrig, wiesen aber hohe, sonderbar geschnitzte Giebel und Türen auf, mit breiten Windfängen davor, und die Schindeldächer schillerten silbrig im Sonnenschein. Rings umher befanden sich gepflegte Gärten, Wiesen und blühende Bäume - Ebereschen, Mandel- und Apfelbäume. Sie schienen erst unlängst in Blüte gestanden zu haben, und der Boden war mit rosa und weißen Blütenblättern übersät, als hätte es geschneit. Die Bogenschützen sprachen mit Cadvan, der mit verwunderter Miene angehalten hatte.
»Sie sagen, dies sei die Stadt Rachida«, übersetzte Cadvan für Maerad. »Ich habe von einem Ort dieses Namens gehört: Er galt als eine der Zufluchtsstätten der Dhyllin. Gemeinhin ist man der Auffassung, er wäre vor vielen Jahren zerstört worden. Ich glaube, allmählich beginne ich zu verstehen. Aber wie konnte ein so herrlicher Ort so lange von den Barden Annars unbemerkt bleiben?«
Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht recht glauben, was er gerade gesagt hatte, dann gingen sie weiter und folgten ihren Begleitern durch die breiten Straßen der Stadt. Die Bogenschützen hatten endlich ihre Waffen beiseite gelegt, sodass Maerad und Cadwan sich unbeschwerter fühlten, und so hatten sie Muße genug, um im Vorbeigehen die Gebäude zu betrachten. Sie waren wunderschön und robust errichtet, alle mit eigenartigen Schnitzereien an Tür, Sturz und Dachgesims. Glas entdeckte Maerad nirgends; die Häuser besaßen breite Fenster, die bei Bedarf mit dicken Holzläden verschlossen wurden. Dahinter erspähte sie weiße Abschirmungen, die sanftes Tageslicht einließen und von denen sie später herausfinden sollte, dass sie aus widerstandsfähigem Papier bestanden. Die Einwohner waren hellhaarig und groß wie die Bogenschützen, und sie nickten den Fremden höflich zu, wenngleich viele stehen blieben und ihnen nachstarrten, nachdem sie an ihnen vorüber waren. Maerad und Cadvan, die beide dunkelhaarig waren, stachen deutlich von ihnen ab; noch größere Neugier allerdings schienen bei den
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